Invasion beim Nachbarn

 Zuerst hat Alessandro nur ein Polizeiauto vorbeifahren sehen. Dann fuhr noch ein größeres vorbei. Das hat uns ein wenig verwundert. In unsere doch abgelegene Waldstraße verirren sich selten Polizisten, es sei denn, es gab eine Anzeige. Die hat es wohl auch gegeben. Das wussten wir zu dem Zeitpunkt aber noch nicht.

Wir waren noch am Rätseln, als die erste Whatsnachricht eintraf. Im Dschungel funktionieren die Buschtrommeln hervorragend und seit wir mit Internet versorgt sind, noch schneller. Fischteich-Nachbarin hatte eine Sprachnachricht geschickt. Beim Lichtan-Nachbarn hätte es eine Invasion gegeben.
Das Grundstück des Lichtan-Nachbarn grenzt direkt an das unsere. Auf der Waldstraße entlang bis zu ihm sind es um die 200 Meter. Der Lichtan-Nachbar ist allerdings nur äusserst selten da. Er und seine Familie leben oben auf dem Hochplateau im Großraum von Curitiba.
Anfang Oktober parkte abends ein Auto am Waldweg vor Lichtan-Nachbars Hof. Wer drinnen war haben wir nicht gesehen. Als ich vorbei gelaufen bin, um weiter hinten im Wald ein Haus für unseren kommenden Besuch vorzubereiten, hörte ich Stimmen von Erwachsenen und von Kindern. Theoretisch hätten es der Sohn oder die Tochter der Lichtan-Nachbarn mit dessen Enkelkindern sein können. Durch die Zweige der Büsche und Bäume hindurch konnte ich im spärlichen Abendlicht nur Schemen erkennen. 

Die Menschen hatten vor dem Haus ein Lagerfeuer gemacht und genossen offensichtlich den lauen Abend, lachten und ratschten. Nichts war auffallend daran. Sie blieben zwei Tage, dann war es wieder ruhig. Wir hörten nichts mehr. Nur nachts, da war stets ein Lichtlein an im Haus des Lichtan-Nachbarn. Das hatten sie wohl vergessen auszuschalten.
Vorgestern erzählte mir dann die Fischteich-Nachbarin, deren Häuschen zwischen dem unseren und dem Lichtan-Nachbarn auf der anderen Seite des Waldweges steht, das Gerücht, dass Lichtan-Nachbar sein Grundstück verkauft hätte. Das verwunderte mich ein wenig, weil wir das eigentlich doch irgendwie mitbekommen hätten. Lichtan-Nachbar war einer der ersten, der sich hier niedergelassen hat, eigentlich zeitgleich mit uns. Einen Verkauf hätte er uns kundgetan.
Am Abend war dann wieder Licht in seinem Haus und Fischteich-Nachbarin und ich beschlossen, Lichtan-Nachbar zu fragen, was da los ist. Der fiel aus allen Wolken. Er hat nicht verkauft, war auch gar nicht hier gewesen. Auch hatte er sein Haus nicht an Freunde oder Verwandte verliehen.
Heute früh kam er dann überraschend angereist, ging zu seinem Haus hinunter und fand dort ein Pärchen mit Kind. Die erklärten ihm, dass sie das Grundstück gekauft hätten und forderten Lichtan-Nachbar auf, zu verschwinden. Es kam zu einem Streit, Drohungen und auch Morddrohungen wurden ausgesprochen, bis Lichtan-Nachbar zur Polizei in die nahe gelegene Stadt fuhr. 

Lichtan-Nachbarin war es vorher noch gelungen heimlich mit dem Handy ein Foto von der Frau des Invasions-Pärchen zu machen. Das zeigte sie dem Delegado der Polizei. Der zeigte sich wenig erstaunt. Er kannte anscheinend das Invasionspärchen schon von anderen, ähnlichen Vorfällen in unserer Region. Jedenfalls sauste bald darauf das erste Polizeiauto an uns vorbei. 

Das Pärchen hatte indes schon Lunte gerochen und sich verzogen. Als die Polizisten ankamen, war nichts mehr von ihm zu sehen. 

Dann kam das zweite Polizeiauto. Das war von der Umweltpolizei, weil das Pärchen schon damit begonnen hatte, das Grundstück zu "säubern", Bäume und Gestrüpp zu schneiden, um es besser verkaufen zu können. Das Fällen von Bäumen und Sträuchern ist verboten, weil der Atlantische Regenwald unter Schutz steht. Hätte Lichtan-Nachbar das Pärchen nicht angezeigt, wäre er wahrscheinlich wegen der "Säuberungsaktion" auch noch auf einem Verfahren sitzen geblieben.
Noch ist der Lichtan-Nachbar da. Ich höre Hammerschläge und den Schwingmäher. Wahrscheinlich richtet er seinen Zaun und mäht die Grundstücksgrenzen. 
Das mit dem Landklau ist übrigens nicht so ungewöhnlich. In Brasilien gibt es zwei Besitzformen. Bei der einen ist das Grundstück in so etwas wie einem Grundbuch eingetragen. Bei der anderen handelt es sich um eine "Posse". Die kann ganz offiziell registriert sein, hat aber keinen Grundbuchstatus. "Posse" heißt "Besitz". Solange ich auf dem Grundstück bin, besitze ich es und kann ich es nutzen. Theoretisch kann ich per Gesetz nur eine einzige "Posse" haben, eben die, auf der ich mich befinde. Das hat seinen Grund. Gedacht war das Gesetz ursprünglich, um das Land zu besiedeln und auch für diejenigen eine Rechtsgrundlage zu schaffen, die sich keinen teuren Grundbucheintrag leisten können oder sich einfach zu fernab von den bürokratischen Zentren befinden.
Wer fünf Jahre oder mehr auf einem Grundstück lebt und dies nachweisen kann, durch Unterschriften der angrenzenden Nachbarn und bezahlte Wasser- oder Stromrechnungen, hat Chancen, so seinen Grundbesitz offiziell nachzuweisen und eine "Posse" zu erreichen. Wer jedoch eine Posse hat und diese jahrelang nicht nutzt, hat große Chancen sie vor Gericht zu verlieren. 

Es gibt ein paar Beispiele in unserer Region, wo dies passiert ist. In einem Fall ließ ein Pfarrer, von einer dieser tausenden Freikirchen, ein älteres Paar auf seiner Posse wohnen. Bedingung war, dass sie im Gegenzug das Grundstück mähen und pflegen. Über zehn Jahre hinweg liess er sich nicht blicken und hat dem älteren Paar auch nie etwas für ihre Arbeit als Haus- und Hofmeister bezahlt. Als er dann kam und das Paar aufforderte, von heute auf morgen das Grundstück zu verlassen, haben diese sich an das Gericht gewandt, weil sie auch gar keine andere Bleibe hatten. Der Richter sprach ihnen letztlich das Recht der Posse zu, auch deshalb, weil der Herr Pfarrer noch andere im Grundbuch eingetragene Häuser besaß und deshalb rein rechtlich schon gar keine Posse hätte haben können.
Unser Grundstück ist übrigens auch eine Posse. Wir haben es nur als solche registriert. Allerdings haben wir es auch vermessen und in das Landkataster eintragen lassen. So sind wir auf der sicheren Seite, falls mal irgendjemand die Idee einer Invasion haben sollte.

Kommentare

mondin hat gesagt…
Ach Du Schande!!! Wie dreist...
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Das fand ich auch. Ich frage mich aber auch, wie die überhaupt das Grundstück gefunden haben. Es liegt ja nicht gerade mitten im Zentrum oder am Strassenrand. Schon eine seltsame Geschichte. Wie gut, dass wir grosse Hunde haben...
Liebe Grüsse

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