Schwiegervater im Gottesdienst mit Covid angesteckt

Es hat meinen Schwiegervater erwischt. Als ob sich der Virus auf die Suche oder Jagd begeben würde. Und doch kommt es mir wie ein Zufallstreffer vor. 

Nach den offiziellen Zahlen des brasilianischen Gesundheitsministeriums haben sich bisher 2,5 bis drei Prozent der Bevölkerung des Landes mit dem Coronavirus angesteckt. Wahrscheinlich ist es bereits einer von zehn Brasilianern. Es wird nur ein Bruchteil von dem getestet, wie das in Deutschland oder anderen europäischen Ländern der Fall ist. 

Nun hat der Zufall meinen Schwiegervater getroffen. Allerdings hat er dem Zufall ein wenig nachgeholfen. Er hat an Gottesdiensten in einer dieser evangelikaler Kirchen teilgenommen. Die gibt es in Antonina zu Hauf. An der Abbiegung kurz vor Antonina, die zu uns in den Wald führt, stehen auf wenigen hundert Metern gleich sieben verschiedene dieser Frei- oder Pfingstkirchen. Manche sind in Garagen eingerichtet. Anderen ist ein eigener kleiner Bau gewidmet. Auf wenigen Metern versammeln sich dort die Gläubigen. Der Pfarrer steht direkt vor ihnen, redet aus einem Miniabstand lauthals ins Mikrofon, verspricht im Gegenzug einer Spende Gottes Segen. 

Manche der "Crente" (Evangelikale) glauben, dass Gott und ihr Glaube sie vor dem Coronavirus schützt. Manche von ihnen gehen dabei soweit, dass sie nicht einmal die einfachsten Regeln zur Vermeidung einer Ansteckung einhalten. 

Laut dem Gesundheitssekretär Antoninas ist die zweite Covid-Welle in unserem Munizip von zwei dieser Crente ausgelöst worden. Sie hatten an einem Treffen in Curitiba teilgenommen, sich infiziert und dann dutzende andere angesteckt. In wenigen Tagen sind allein von ihrer Glaubensgemeinschaft über hundert in Antonina positiv getestet worden. Von anderen evangelikalen Glaubensgemeinschaften sollen es 30 sein. Über 80 Testergebnisse stehen noch aus.

Das erzählt mir der Gesundheitssekretär als ich vor einer der zwei Covid-Zentralen Antoninas stehe. Eine wurde in einem Sportzentrum eingerichtet, die andere in einem Seitenflügel des Krankenhauses. 

Aber lasst mich von vorne anfangen.

Gottesdienste lösen Covidwelle aus

Am Freitagvormittag (16.10.20) hat Schwiegermutter angerufen. Sie habe Hunger und ihr Mann weigere sich, ihr etwas zu essen zu machen, er sei zu schwach, sagt sie. 

Was das bedeutet, ist mir sofort klar. 

Vor sechs Tagen hat Schwiegervater über eine laufende Nase geklagt. Er sei nach dem Gottesdienst im Regen heim gelaufen und jetzt erkältet, hat er erklärt. Bei seiner Erklärung zieht es mir den Boden weg. Ich ahne, was kommen wird. Warum muss er sich überhaupt in diese Winzkirchen zwängen, wenn er seinen Gott doch im Herzen trägt? Es hilft nichts. Er ist stur, eigensinnig, starrköpfig.

Seit Beginn der Covid-Pandemie mache ich nicht nur für uns monatlich Großeinkäufe, sondern auch für die Schwiegerleut. Die Lebensmittel stelle ich vor ihrer Haustür ab. Gedacht war dies eigentlich, damit er nicht so oft das Haus verlassen muss. Immerhin gehören die beiden zur Risikogruppe. 

Einen Tag später hustet er. Ob er Fieber hat? Das weiss er nicht, weil er das Thermometer nicht findet. Er hält unsere Aufregung für unangebracht, wo es ihm doch gut gehe und es nur eine Erkältung oder eine Grippe sei. 

Wir reden auf ihn ein, einen Test zu machen, in Schwiegermutters Nähe eine Maske zu tragen. Dann stellen wir bei den von der Gemeinde und auch vom Bundesstaat Paraná eingerichteten Covid-Whatsapp-Nummern Fragen, was zu tun ist. Die Antwort von der Bundesstaat-Covid-Stelle steht bis heute noch aus. Die von der Gemeinde kommt einen Tag später. Da steht, er soll sich für einen Test zum Covid-Zentrums Antoninas begeben.

Mit viel Zugerede geht er zwar nicht zum Covid-Zentrum, aber zur Notaufnahme ins Krankenhaus. Ein Nasenabstrich wird genommen und er erhält ein Rezept für einen Hustensaft und ein Antibiotikum. Ausgehändigt wird ihm auch ein Zettel, auf dem steht, dass er sich in Quarantäne begeben muss, sollte der Test positiv sein. Sinnvoll wäre die Isolation ja eigentlich schon bei einem Verdachtsfall, aber auch davon will Schwiegervater nichts wissen. Es gehe ihm gut, sagt er und der Husten habe mit der Einnahme des Sirups schon nachgelassen. Das Testergebnis wird ihm für nächste Woche versprochen.

Das war am Mittwoch. 

Stunden des Wartens

Nach dem Anruf am Freitagvormittag sind Alessandro und ich in die Stadt zu den Schwiegerleuten gefahren. Im Gepäck war ein von der Nachbarin ausgeliehener Messclip zur Überprüfung der Sauerstoffsättigung im Blut. 

O. sieht nicht gut aus. Er sitzt am Tisch seine Bibel lesend, als wir ankommen. Seine Atmung ist flach und schnell. Der Messclip bestätigt meine Befürchtung. Nur 92 Prozent Sauerstoffsättigung. Nicht dramatisch, aber auch nicht gut.

Weil mein Handy ohne Kredit ist, laufe ich zu Fuß ins Krankenhaus um einen Sanka anzufordern. Das war um 12.30 Uhr. Der Krankenwagen komme in einer Stunde, wird mir versprochen, weil jetzt nämlich Mittagspause sei. Ich solle dann vor dem Haus warten, damit sie den Eingang finden. Anders als in Deutschland sind an den Gebäuden in Brasiliens Städten nur selten gut sichtbare Hausnummern angebracht.

Kurz später stehe ich vor dem Haus auf der Straße und warte, und warte, und warte, bis es mir zu blöd wird und ich mich auf den Weg mache, eine Aufladestelle für mein Handy zu finden, um im Krankenhaus anrufen zu können. Es hätte noch einen anderen Einsatz gegeben, aber jetzt komme er, heißt es, als mein Handy endlich aufgetankt ist.

Um 16.30 Uhr kommt er endlich, der Krankenwagen, wird O. darin eingepackt, fahren wir mit offenen Wagenfenstern ins Krankenhaus. Auf dem Weg zum Krankenhaus erzählt mir der Fahrer von dem sprunghaften Anstieg der Covid-Zahlen in Antonina und davon, dass er schon Patienten ins Krankenhaus gebracht habe, die sich mit ihm unterhalten hätten und dann am nächsten Tag gestorben seien. Sehr aufmunternd.

Dann stehe ich mir wieder die Beine in den Bauch. Dieses mal vor dem Covidflügel. Eine offene Tür, vor der ein einsamer Plastikstuhl steht, ist der Eingang vom Freihimmel-Wartezimmers zum Vorzimmer der Aufnahmestation. Nach ein paar Minuten nimmt eine Krankenschwester neben der offenen Tür Schwiegervaters Daten auf, schreibt alles in schönster Handschrift auf ein Blatt Papier. Ein ähnliches Blatt Papier wurde schon am Mittwoch ausgefüllt und ist dann wahrscheinlich irgendwo in den unendlichen Weiten des kleinen Krankenhauses verschwunden. Computer? Ja, die werden seit Jahren versprochen. Bis sie eintreffen wird in Antonina aber auch im 21. Jahrhundert weiterhin alles zu Papier gebracht. Eine Ablage gibt es indes nicht. Die Blätter verschwinden nach dem Arztbesuch wieder.

Die Krankenschwester misst noch den Blutdruck und auch die Sauerstoffsättigung. Dann wird O. aufgefordert, im Nebenraum in einem dieser Liegsessel Platz zu nehmen, bis ein Doktor kommt.

Ich warte derweil im Freiluft-Wartezimmer, beobachte Schwiegervater durch die Glasscheibe. Ich bin froh darüber, dass ich nicht gemeinsam mit etlichen möglichen Covid-Patienten in einem geschlossenen Raum warten muss. Dank des subtropischen Klimas muss auf dem Freiluftwarteplatz auch keiner frieren.

Das Freiluftwartezimmer wird in wenigen Minuten zu einem Bienenstock ohne Wände. Drei Frauen, dreier Generationen kommen. Die älteste setzt sich auf den Plastikstuhl. Später fragt die Krankenschwester, ob ihr Alter wirklich stimme. "Ist sie tatsächlich 103 Jahre alt?" "Ja, das ist sie", so die Antwort. Einer der Familie sei positiv getestet worden und jetzt hätten sie alle drei leichten Husten, erklärt die mittlere Frau. Für alle drei werden minutiös nacheinander Zettel mit Namen, Geburtsdatum, Wohnort, Symptomen und der möglichen Ansteckungsquelle beschrieben. Ein anderes Ehepaar kommt, deren Sohn positiv ist. Die Warteschlange wird immer größer und der Parkplatz füllt sich mit Menschen, die Abstand suchen. Die meisten der Verdachtsfälle werden getestet und dann wieder heimgeschickt. Soweit zur Vorbeugung. O. sitzt hingegen immer noch im Liegesessel.

Nach einer Stunde Warten kommt ein Arzt. Auf die Frage, wie er sich fühlt, sagt mein Schwiegervater  "gut". Ob er Schwierigkeiten beim Atmen habe? "Nein." Ich glaub, ich hör nicht recht. "Herr Doktor schaun sie doch, wie flach er atmet. Seine Sauerstoffsättigung liegt außerdem nur bei 92 Prozent", sage ich. Erst dann räumt O. ein, dass er keine Kraft für nichts hat und sich bei der kleinsten Anstrengung sofort hinsetzen muss.

Der Herr Doktor, mit mindestens über 70 Jahren selbst schon ein Mitglied der Risikogruppe, schlürft zum anderen Ende des Saals, holt ein Stetoskop, schlürft zurück und hört O.s Rücken ab. Er sagt nichts, zeigt keine Regung. Dann kritzelt er auf einen Zettel die Anordnung für eine Röntgenaufnahme und verschwindet wieder. 

Wir warten einmal mehr auf Godot. Wahrscheinlich wird die Röntgenaufnahme auch per Hand gezeichnet, murmle ich nach zwei Stunden des Wartens vor mich hin. Als ob dies jemand gehört hätte, kommt ein neuer Arzt, spricht von einem Fleck auf der Lunge und davon, dass die Anzeichen für Covid sprechen. O. sitzt still auf dem Liegestuhl. Er zuckt mit keiner Wimper, sitzt nur da und schaut vor sich hin. Keine Frage stellt er und keinen Laut gibt er von sich. Was mag in ihm vorgehen?

Internierung

Der Röntgenarzt versucht, Ruhe zu verbreiten. Die Situation sei nicht bedenklich, aber es wäre besser O. zu internieren, um die Sauerstoffsättigung im Blut zu verbessern. Schwiegervater sagt immer noch nichts. Er ist erstarrt. Der freundliche Mediziner redet weiter auf ihn ein. Bei der Frage, wo und mit wem er lebt, wacht O. auf. Er antwortet kurz. Dann verschwindet er wieder hinter dem Vorhang der Erstarrung. 

Ich nicke dem Arzt zu und gebe damit das Einverständnis zur Internierung. Eine Schwester wird herbeigerufen. Sie bringt O. zu einer Box, die mit einem Bett und Überwachungsgeräten ausgerüstet ist. Spanische Wände trennen sie von den anderen Boxen. O. hievt sich samt Schuhen und Jeans auf das Bett. Am nächsten Tag werde ich ihm Short und T-Shirt bringen, verspreche ich und versuche noch einmal, ihn zu beruhigen. Du schaffst das O. 

Ich hoffe nur, dass er sich nicht an den Neffen seiner Frau erinnert, der zu Beginn der Pandemie an Covid verstorben ist, ohne jegliche Vorerkrankung und in nur wenigen Tagen. 

Noch geht es nicht nach Hause. Zuerst muss ich noch einkaufen. Mittlerweile ist es Viertel vor Acht. Vom vielen Stehen spüre ich meine Füße kaum noch. Nicht einmal den Hallux spüre ich, der mich sonst beim längeren Gehen quält. Sieben Stunden Stehen haben ihn betäubt. Schnell packe ich im Supermarkt zwei Wagen mit Reis, Bohnen, Nudeln, Tomaten, Zucchini, jeder Menge anderer Lebensmittel und Alkohol in Gel voll. Einer ist für mich, der andere für Alessandro und seine Mutter. Mein Süßer wird sie die nächsten Tage behüten.

Erst um kurz nach zehn komme ich nach Hause. Hund Paçoca heult vor Freude, die Katzen umstreichen meine Beine, der Duft des Waldes umfängt mich. Langsam lande ich in meiner Welt. Beim herunterschreiten der Treppe zum Häuschen fällt mir ein, dass die Hühner ja im Freien sind. Ach Herrje, die hatte ich völlig vergessen. Weil wir ein neues Bipperl haben, schließe ich morgens den Hühnerstall wieder zu, nachdem Gockel Anton und seine Damen diesen verlassen haben. Nur Woopy und ihr Junges bleiben drinnen, damit die Katzen nicht auf dumme Ideen kommen. 

Ich brauche mich nicht lange zu fragen, wo die Hühner sich wohl ihr Not-Nachtquartier eingerichtet haben, weil sie ja nicht in den geschlossenen Hühnerstall reingekommen sind. 

Unsere Tierlein haben unser Häuslein während unserer Abwesenheit in Villa Kunterbunt verwandelt, mich zur Pippi Langstrumpf gemacht. Zwei Hühner sitzen auf dem Tisch. Gockel Anton hat es sich mit drei anderen Mädels auf meinem 80 mal 80 Zentimeter kleinen Treibhaus bequem gemacht. Es steht gefüllt mit zarten Pflänzchen von Tomaten, Urucum und Kräutern im überdachten Eingangsbereich. Jetzt sieht es unter dem Gewicht der Gefügeltiere ein wenig mitgenommen aus. 

Unser Zimmerl ist zum Katzenhotel geworden. Einem der Tiger ist es gelungen, die Tür zu öffnen. Lilli und Belezura räkeln sich bei meinem Anblick in meiner Hängematte. Annamirl liegt schnurrend auf Alessandros Bett. Maxi schaut zwischen den Büchern hervor, den restlichen Büchern, die bei ihrer Lektürenbesteigung nicht aus dem Regal geflogen sind. Es ist ein kleines, aber wohltuendes Chaos. 

Samstag, 17.10.2020

Alessandro hat es nicht geschafft, seinem Vater die versprochene bequeme Kleidung zu bringen. Schwiegervater ist am Samstagvormittag ins Regional-Hospital im 70 Kilometer entfernten Paranaguá verlegt worden. Dort sind sie besser ausgerüstet und könnte O. besser betreut werden, erklärt der freundliche Arzt vom Freitag Alessandro. 

Nein, sein Zustand hat sich nicht verschlechtert, aber eben auch nicht verbessert. Mehr werden wir erst am Sonntag erfahren. Dann wird das Krankenhaus Kontakt mit uns aufnehmen, heißt es.

Ich drücke mich den ganzen Tag drum herum, die Verwandschaft zu informieren. Stattdessen räume ich zuerst auf, beseitige das Chaos in und rund ums Haus, miste den Hühnerstall aus, gehe mit den Hunden Gassi, telefoniere immer wieder mit Alessandro. 

Am Nachmittag hole ich ein wenig Schlaf nach. Ich will Kraft tanken, um der Verwandschaft Bescheid zu geben, den Ansturm der Fragen überstehen zu können. Später nimmt dies Stunden in Anspruch.

Sonntag, 18.10.2020

Den Sonntag verbringe ich als Informationszentrale.  Das Handy piepst unaufhörlich. Schwester, Brüder, Schwager, Schwägerinnen, Bekannte, Freunde von uns - Jeder will wissen, wie es O. geht. 

Dabei weiss ich selber nicht viel. Es hat sich eine Glocke über ihn gesenkt, die ihn von allen abschirmt. 

Am frühen Nachmittag schickt Alessandro über Whats ein Foto vom Testergebnis. Positiv. Und jetzt?

Obwohl mir schon von Anfang an klar war, dass es höchstwahrscheinlich Covid-19 ist, bin ich doch ein wenig geschockt. Unbewusst reagiere ich, als würde das Ergebnis irgendwelche erdrutschartigen Veränderungen im Körper des Schwiegervaters auslösen können.

Eigentlich arbeiten die Labors sonntags auf Sparflamme. Das drückt sich auch darin aus, dass die Covid-Zahlen Brasiliens an Wochend und Feiertagen wesentlich unter denen der anderen Wochentage liegen.

Interessant ist auch, dass ein Mitarbeiter des örtlichen Gesundheitsamtes das Ergebnis persönlich ins Haus meiner Schwiegermutter gebracht hat - am Sonntag. Er notiert sich die Daten der Schwiegermutter, fragt wer sonst noch mit ihr zusammenlebt und kündigt ein Monitoring an. Ob das Monitoring auch einen Test beinhaltet, verrät er nicht. 

Am Freitag hat ein Arzt diese Frage noch damit beantwortet, dass das ja nicht nötig sei, so lange es keine Symptome gebe. Soweit zur Testpraxis. Offiziell sind in Brasilien bisher 5,2 Millionen Menschen positiv getestet worden. Wahrscheinlich haben sich bereits drei- bis viermal so viele mit dem Coronavirus angesteckt.

Über Quarantäne wird nicht viel geredet. Das ist in unserem Fall auch nicht so unbedingt notwendig. Schwiegermutter verbringt nach einem Gehirnschlag seit Jahren ihre Tage im Bett und manchmal auch im Rollstuhl. Nur einmal im Jahr verlässt sie das Haus. Das ist dann der Fall, wenn sie bei der Bank durch ihr persönliches Erscheinen beweisen muss, dass sie noch lebt.

Ich rufe im Krankenhaus an und übermittle das Testergebnis, zappe ihnen das Foto rüber. 
Die Krankenschwester berichtet, dass Schwiegervaters "genereller Zustand" gut sei. Er atme mit Hilfe einer Sauerstoffmaske. Die Tomografie zeige, dass seine Lunge beeinträchtigt sei. Aber er befinde sich in Behandlung, sei "lúcido" (hellen Geistes) und kommunikativ.

Kurz später schreibe ich einen kurzen Brief für ihn. Fotografiere ihn ab und schicke das Foto per Whats an die Krankenschwester, mit der Bitte, ihn O. vorzulesen.

"Sorge dich nicht. Du schaffst das. Du hast schon einen Krebs besiegt und wirst auch Covid besiegen. Vielleicht denkst du, dass du allein und verlassen bist. Bist du aber nicht. Alle denken an dich, dein Sohn, deine Frau, deine Geschwister, Freunde. Das Telefon steht keine Sekunde still. Alle wünschen dir Gute Besserung. Sogar unser Taxifahrer hat angerufen. 

Hab Vertrauen. Glaube an das Gute. Du schaffst das.

Wir denken an dich.

Bald wirst du wieder über die Straßen Antoninas laufen, die Vögel zwitschern hören, den Wind im Gesicht spüren und mit deinen Geliebten und Freunden lachen."

Ob sie ihn vorgelesen hat? Es kommt keine Antwort mehr. 

Ich bin eigentlich kein Telefonzombie. Bei einem Klingeln nehme ich im Normalfall nur ab, wenn ich Zeit und Muse habe. Whatsnachrichten rufe ich zum Ärgernis einiger Freunde ebenso nur zwei bis dreimal am Tag ab. Und wenn es etwas dringendes ist, fragen sie vorwurfsvoll. Dann können sie ja anrufen, sage ich.

Jetzt liegt das Handy neben mir und ich starre es an, als ob dies allein schon eine einkommende Nachricht auslösen könnte. Tut es aber nicht. Die meisten Zumzums stammen von diesen unsäglichen "Bom-Dias", Guten Tag, schönes Wochenende, Gott segne deinen Sonntag (das mir als Atheistin...). Trotzdem kann ich es nicht lassen, ständig nachzusehen, ob nicht doch eine Nachricht aus dem Krankenhaus dabei ist. Vielleicht habe ich sie ja übersehen. Es macht Zumzum und ich wische auf dem Handy herum.

Jedes Zumzum vom Handy löst eine Mischung aus Hoffnungsschimmer und Gänsehaut aus. Es keimt die Hoffnung, von einem Arzt zu hören: "holt ihn ab, er ist über den Berg". Und es keimt die Befürchtung, dass er intubiert werden muss. 

Am Abend greife ich noch einmal zum Telefon. Es gehe O. gut. Der Sauerstoffgehalt in seinem Blut sei den ganzen Tag über stabil gewesen. Ein gutes Zeichen.

Kurz später tippe ich die Nachricht ins Handy ein und schicke sie an die Verwandschaft. Mit zwei der Nichten des Schwiegervaters habe ich eine Informationszentrale eingerichtet, die im Schneeballsystem funktioniert. Damit muss nicht ich alleine alle anrufen oder Nachrichten verschicken.

Jetzt gehe ich erst einmal ins Bett. 

Kommentare

mondin hat gesagt…
Ich drück' Euch allen und vor allem Deinem Schwiegervater alle Daumen und Zehen!!! Und paßt auch gut auf Euch selbst auf mit genügend Schlaf etc. Wenns jemand aus der eigenen Familie erwischt...dagegen verschwinden sämtliche Problemchen!
Alles Liebe und Gute <3
mondin hat gesagt…
Wie gehts dem Schwiegervater, Gabriela??
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Er ist am Montag plötzlich aus der UTI direkt nach Hause entlassen worden. Das war was. Ist besser so. Zu Hause erholt er sich besser. Wahrscheinlich haben sie aber einfach nur den Platz gebraucht. In Curitiba und Küste hier sieht es düster aus. Aber Schwiegervater geht es besser. Er ist noch etwas schwach auf den Beinen. Erinnert sich zum Glück an nicht viel. War die meiste Zeit sediert. Heute habe ich ihm Lungenübungen rausgesucht. Die Sauerstoffwerte sind gut. Meistens um 95, nur manchmal 92 oder weniger (vor allem nach dem Essen....). Hoffe, es bleibt nichts zurück.

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