Coronaviruskrise in Brasilien und Antonina: Sehnsucht, Quarantänemüdigkeit und Negativbeispiel

Noch konzentrieren sich die meisten der in Brasilien knapp 350.000 offiziell erfassten  Infektionsfälle auf die großen Zentren. In etwa 40 Prozent der 5.570 Munizipe wurde bisher noch kein Covid-19-Fall registriert. Das gilt vor allem für die kleineren Städte und Kommunen mit weniger als 20.000 Einwohnern, zu denen auch Antonina zählt. Studien zeigen aber, dass nach und nach auch immer mehr kleinere Munizipe betroffen sind.

Antoninas Präfekt hatte früh reagiert, schon im März eine Ausgangssperre erlassen, zur freiwilligen Quarantäne aufgerufen. Später kamen Straßenblockaden hinzu, um die Einreise von Touristen und Ausflüglern zu bremsen. Ebenso gab es schon früh eine Maskenpflicht.

Quarantänemüdigkeit

In den ersten Tagen war ich erstaunt, wie viele sich freiwillig an die Regeln hielten. Das war Anfang April. Bei meinem jüngsten Zahnarztbesuch (Ja, ich habe immer noch Zahnprobleme) in der Stadt sah es anders aus. Die Straßen waren nicht mehr leer. Es hätte auch irgendein Tag vor Corona sein können. Nichts deutete mehr auf die Coronavirusgefahr hin. Auch die bunten, selbst geschneiderten Masken sind verschwunden. Nur wenige Passanten waren mit Mundschutz ausgerüstet, obwohl diese mittlerweile eigentlich im ganzen Bundesstaat Paraná getragen werden müssen. Die meisten Geschäfte waren hingegen leer.

Es sah so aus, als ging es den Menschen nur ums Rausgehen. Nach beinahe zwei Monaten Isolation, kann ich das durchaus verstehen. Das gilt nicht für die Unbedachtheit vieler, ohne Mundschutz durch die Straßen zu schlendern, mit Freunden und Bekannten nah beieinander zu stehen und zu ratschen, kurz Basismethoden zur Ansteckungsvermeidung zu ignorieren.

Unsichtbare Gefahr

Ein Freund sagt, "hier in Antonina gibt es keinen Fall." Den Mundschutz zieht er nur dann aus der Hostentasche und stülpt sich ihn über, wenn er einen Laden betreten will. Er ist nicht der Einzige unserer Bekannten, der so denkt. Noch ist die Gefahr in Antonina nicht greifbar und für viele weit weg. Sie halten die Maßnahmen für übertrieben.

Ein anderer Bekannter glaubt, dass eine Quarantäne nichts bringt und verweist auf São Paulo. In dem Bundesstaat werden trotz strengerer Isolationsmaßnahmen derzeit täglich etwa 3.000 Neuinfektionen registriert. In der Großraumregion der Megametropole liegt der Belegungsgrad der Intensivstationen mittlerweile bei über 90 Prozent. Insgesamt wurden bereits über 80.000 Menschen im Bundesstaat São Paulo auf Covid-19 positiv getestet. Über 6.000 sind an den Folgen der Infektionskrankheit gestorben.

Unser Bekannter vergisst dabei, dass laut Studien die Infektionszahlen und die Zahl der Todesfälle ohne Isolation weitaus höher liegen würden.

Präsidentielles Negativbeispiel

Dann ist da noch der Präsident des Landes, der Covid-19 als "Gripplein" abtut, davon spricht, dass wir alle eines Tages sterben müssen und Arbeitslosigkeit und Hunger auch Tote verursachen. Er gehört mit seinen über 60 Jahren zur Risikogruppe und bleibt nicht zu Hause. Immer wieder unternimmt er Ausflüge, ignoriert die Maskenpflicht in Brasília, posiert mit Fans Kopf an Kopf für Selfies, greift sich an die Nase und betatscht mit der gleichen Hand dann seine Anhänger.  Sein Beispiel des Ungehorsams verbreitet er selbst auch noch mit Videos über die sozialen Netzwerke.

Darüber, dass in Brasilien bereits über 22.000 Menschen an Covid-19 gestorben sind, sagt er nichts. Er sagt auch nichts zu den wachsenden Problemen in den Krankenhäusern, dazu dass in Rio de Janeiro Menschen in der Warteschlange auf einen Intensivstationsplatz sterben, dass es dort bereits einen Kriterienkatalog gibt, der Ärzten bei der Entscheidung helfen soll, wer mit einem Beatmungsgerät eine Chance auf ein Überleben erhält. Dazu und zu den vielen menschlichen Dramen, die sich in Manaus, Rio de Janeiro, Fortaleza, Recife, Belém und anderen Großstädten des Landes abspielen, schweigt er, als würde ein Schweigen die Fakten verschwinden lassen.

Stattdessen pocht Präsident Jair Bolsonaro darauf, dass die Wirtschaft gerettet werden müsste. Die befindet sich laut Wirtschaftsminister Paulo Guedes auf der UTI. Ein unsäglicher Vergleich.

Die Wirtschaft hat in Brasilien schon vor der Coronaviruskrise geschwächelt. Das ist jetzt vergessen. Jetzt will Bolsonaro der Bevölkerung glaubhaft machen, dass die von Gouverneuren und Präfekten erlassenen Quarantänemaßnahmen die Wirtschaft des Landes zerstören würden.

Präsident hat andere Probleme

In den vergangenen Tagen ist aber auch die Wirtschaft in den Hintergrund gerückt. Brasiliens Präsident hat gerade andere Probleme. Beim Obersten Gerichtshof laufen Ermittlungen. Ausgelöst wurden sie von Ex-Justizminister Sérgio Moro. Der hat seinen Rücktritt damit begründet, dass Bolsonaro versucht haben soll, auf die eigentlich unabhängige Bundespolizei Einfluss auszuüben. Hintergrund sind Ermittlungen gegen seine Söhne. Einer von ihnen soll wissentlich Fake-News verbreitet haben. Einem anderen wird Geldwäsche und Verbindungen zum organisierten Verbrechen vorgeworfen.

Bolsonaro hat sich während des Wahlkampfs als Weiße-Weste-Repräsentant verkauft. Da kommen die Anschuldigungen gerade gar nicht gut. In den Medien wird dies entsprechend ausgeführt. Nachrichten darüber teilen sich die Sendezeit mit denen über Coronavirus.

Auch das und das von Bolsonaros immer wieder wiederholte Negativbeispiel erzeugt bei Vielen ein Bild, dass die Infektionsgefahr doch gar nicht so schlimm sei. Hinzu kommen die über Fernsehen ausgestrahlten Reportagen über die Quarantänelockerungen in Italien, Spanien, Deutschland und anderen Ländern. Sie zeigen Menschen auf den Straßen, in Cafés, auf dem Petersplatz. Dass in diesen Ländern die Ansteckungsrate bei weitem unter der von Brasilien liegt, das Gesundheitswesen nicht vor dem Zusammenbruch steht und sie bei der Coronavirusbekämpfung Brasilien um Wochen voraus sind, kommt nicht bei jedem an.

Sehnsucht nach einem Leben ohne Corona

Die Sehnsucht nach einem Leben nach Corona wächst. Das ist auch bei uns im Wald spürbar. Nach ein paar ruhigen Wochenenden sind heute wieder die Städter aus der Großraumregion Curitibas aufgetaucht. Würde ich sagen, in Massen, wäre das übertrieben. Aber für unsere Verhältnisse kommt es den Massen schon nahe, weil wir die meiste Zeit hier am Rande des Regenwaldes eigentlich alleine sind und viele der "Nachbarn" nur alle paar Wochen mal zu ihren Anwesen fahren. Heute hat ein Wochenendnachbar aber gleich seine ganze Familie samt Schwiegersohn und Co. mitgebracht, ein anderer Baumaterial im Anhänger. Es ist ein stetes Kommen und Gehen auf unserem kleinen Waldweg.

Und wir? Wir schotten uns weiter ab, greifen zum Mundschutz, wenn jemand kommt und versuchen, Distanz einzuhalten.

Ticker zum Coronavirus in Brasilien

Für den Fall, dass ihr mehr über die Coronaviruskrise in Brasilien erfahren möchtet: Im Brasilienportal schreibe ich täglich einen Ticker mit den neusten Daten und Geschehnissen.

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