Die Zigeunerin mit dem kopflosen Pferd


Hufe schlagen auf das Kopfsteinpflaster während der Nachtnebel den Hügel vom Meer hinauf zur Kirche zieht und alles in sich verschlingt. Nichts ist zu sehen, nur das Getrappel eines Pferdes schallt von den Wänden der Häuser wider. Es ist das weiße Pferd der Bartira, der jungen, schönen Zigeunerin, der Tochter des Clanchefs.

Die Zigeuner hatten ihre Zelte auf der Wiese unterhalb der Kirche aufgeschlagen, die von den ersten gottesfürchtigen Siedlern gebaut wurde. Es war ein schwülheißer Sommertag, zu heiß zum Arbeiten, zu heiß zum Sitzen, zu heiß für alles. Bartira schnappte sich ihre weiße Stute, ihre treue und stete Begleiterin und machte sich auf den Weg zur nahegelegenen Meeresbucht. Mit einem Sprung ins Wasser wollte sie sich Abkühlung verschaffen. Zum letzten Mal in ihrem Leben sah sie über die Bucht. Dann tauchte sie in die Schwärze des Todes. Mit dem Kopf prallte sie auf den Felsen.

Fjord von Antonina
Pampa, ihr Pferd, trottete ohne Bartira zurück zum Platz des Lagers. Erschrocken vom Auftauchen des Pferdes ohne seiner Reiterin begaben sich die Eltern Bartiras und alle Clanmitglieder sofort auf die Suche nach der jungen Frau. Als sie sie fanden, war die Trauer groß. Sie brachten Bartiras Körper zurück ins Lager und riefen nach dem Pfarrer. Der weigerte sich, der Toten den Segen zu geben, einer Zigeunerin von außerhalb.

Und jetzt? Sie vergruben ihre Tochter auf der Wiese unterhalb der Kirche und beschlossen alsbald, ihr von traurigen Erinnerungen behaftetes Lager abzubrechen. Pampa wich indes keinen Hufschlag von der Seite des Grabhügels. Die Zigeuner verkauften sie schließlich und zogen weiter.  Zurück blieben das Pferd und die Seele Bartiras.

In manchen Nächten sollen die Hufschläge des Pferdes noch zu hören sein. In manchen Nächten soll es erscheinen und für Schrecken sorgen, weil es mit seinem weißen Körper und seinem schwarzen aussieht, als hätte es keinen Kopf. Manchmal soll auch Bartira erscheinen, um ihre Wehmut nach ihrer Freundin, dem Pferd zu stillen.

Dort wo sich einst das Grab befunden hat, steht heute ein kleiner Pavillon, um rahmt von den Bäumen eines Parks. Jeden ersten Sonntag im Monat spielt in dem Pavillon der Nachwuchs der Philharmonika Antoninas.

Die Geschichte Bartiras ist eine von den vielen Legenden, die es in und um Antonina gibt. Erzählt hat uns die Geschichte heute die Frau Archivarin. Nur einen Steinwurf entfernt von der Organisation Ademadam steht das Stadtarchiv, dessen Ruine mit viel Geld aus der Staatskasse rennoviert worden ist. Seitdem sortiert die Frau Archivarin dort alte Schriftstücke, Geschichten, Fotos und alles aus längst vergangenen Zeiten, das noch übrig ist. Meist arbeitet sie alleine und kaum einer verirrt sich ins Stadtarchiv. Dabei hat sie so viel zu erzählen.

Heute hat die Frau Archivarin eine Studentin in der Ademadam (Nichtregierungsorganisation für den Umweltschutz und die Entwicklung Antoninas) besucht. Während die Studentin im Büro am Computer saß, hat sie unser Hämmern und Sägen vernommen. Neugierig hat sie heraus gespäht und uns beim Bau der Bambuspergola ein wenig zugesehen. Wir sind ins Reden gekommen und ruckzuck hat sich das Gespräch um die Geschichten aus Antonina gedreht.

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