Schnee von gestern

Kleine, weiße Flocken zieren den Bildschirm. Wären da nicht die Leute mit Mützen auf den Köpfen und strahlenden Gesichtern, könnte es als durchflocktes Fernsehbild durchgehen. Das Bild unseres Fernsehers ist trotz Parabolantenne nicht so gut. Unser Häuslein steht in einer Talmulde, umgeben von Bäumen und Hügeln und die Antennenschüssel liegt auf dem Boden. Sie liegt da, weil wir es noch nicht geschafft haben, einen Support zu zimmern oder zu betonieren. Ihr Bodendasein hat den Vorteil, dass die Katzen sie nicht für interessant genug halten, um auf ihr herumzukraxeln. Der Nachteil ist der Schnee im Bild. Die sporadisch dahin fallenden weißen Punkte, die jetzt in den Abendnachrichten für Aufsehen sorgen, sind aber echt. Echter Schnee. Mitten in Brasilien. Das heißt, nicht mitten, aber immerhin im Süden Brasiliens unter anderem in einer kleinen Stadt namens São Joãoquim, im Bundesstaat Santa Catarina.

Die Reporterin grinst über das ganze Gesicht. Schnee. Zum ersten Mal in ihrem Leben. Schnee. Schnee auf ihrem Kopf, Schnee auf ihren Schultern, Schnee auf ihren Händen und auf ihrem Manuskript. Sie ist nicht die einzige, die von fern angereist ist, um an diesem Naturereignis teilzunehmen. Sie schwingt ihr weiß gepunktetes Mikrofon vor ein bärtiges Gesicht mit Wollmütze. „Es ist unglaublich“, sagt der Herr. Schon immer habe er sich gewünscht, Schnee zu sehen, sagt er und sieht nach oben, um einen Blick auf die Flocken zu erhaschen, „camuchos“, bevor sie vor seinen Füßen schmelzen. Vor wenigen Stunden hat er in seinem Haus in der Nähe des Äquators, im brasilianischen Bundesstaat Amapa, noch geschwitzt. Jetzt 4000 Kilometer weiter südlich staunt er in Wollpullis und Anorak gepackt über die Kälte und was diese mit sich bringen kann. Die Reise war es wert, sagt er. Hinter ihm steht ein Schneemann aus Plastik, bewundern andere Schneetouristen, das weiße Nass.

Das Spektakel wiederholt sich fast jedes Jahr. Die Tourismusbranche weiß es zu nutzen, bietet Kurzreisen von ganz Brasilien aus in den Süden des Landes an. Dieses Jahr hat sich besonders gelohnt. Bereits zum sechsten Mal vermeldeten die Meteorologen Schnee. Doppelt so oft und so viel wie der seit Jahren verzeichnete Durchschnitt. In fünf Städten Santa Catarinas hat es laut der Nachrichtensprecherin heute geschneit. Auf die null Grad ist die Temperatur dort heute nacht abgekühlt. Die gefühlte Temperatur liege aber bei sieben bis acht Grad Minus, sagt sie von ihrem wohligen Studio aus in Rio de Janeiro.

Schnee und Reif, die einen reisen dem Ereignis nach, die anderen würden davor am liebsten ausreißen. „Jetzt werden sich die Leute wieder aufregen“, verkündete heute morgen João. Er lebt vom Gemüseanbau. Etliche Hektar hat er mit der Gurken- oder Zucchini ähnlichen Frucht „Chuchu“ bestückt. Die mögen es nicht so kalt, vertragen keinen Frost. Gestern hat er in der Großmarkthalle in der 90 Kilometer entfernten Großstadt Curitiba für eine Kiste Chuchu noch R$ 20,00 erzielt. Morgen werden es so um die R$ 40,00 sein, wie er mutmaßt. Eigentlich ein gutes Geschäft, wäre da nicht die Gefahr, dass der Frost seinen Chuchus den Garaus macht, so wie es bei seinem Nachbarn der Fall war. Zé hat nur einen kleinen Hektar Chuchu angebaut. Morgen wollte er die flaschenförmigen Früchte ernten. Daraus wird nichts. Der Frost hat Pflanzen und Früchte verbrannt. Auch Vanderley hatte Pech. Zuerst hat der starke Wind vor ein paar Tagen das Klettergerüst der Chuchus flach gelegt, dann streifte der Frost darüber. Zé-Maria von der Emater, einer staatlichen Einrichtung, die den kleinen Landwirten mit Rat und Tat zur Seite steht, hat sich das Dilemma heute morgen angesehen. Hat Fotos gemacht, um sie an seinem Bericht anzuhängen. Mit dem Bericht, wird der Bauer zur Bank gehen und um Aufschub bitten, weil das Geld mit dem er den landwirtschaftlichen Kredit zurück bezahlen sollte nun ausbleiben wird. Keine Ernte, kein Geld. Wir hatten Glück.

Mir sind nur meine knie hohen Basilikumstauden erfroren und die Baumwollstauden haben ein wenig gelitten, die beiden Kakaofrüchte auch. Zum ersten Mal hatte mein Kakaobäumchen Früchte angesetzt. Was habe ich mich auf sie gefreut. Aus dem Fruchtfleisch, das die Schokoladensamen umgibt lässt sich ein erfrischender Saft machen. Auf den muss ich jetzt wohl nochmal ein Jahr warten. In der Hoffnung, dass der nächste Winter wieder milder ausfallen wird. Dabei war und ist der heurige Winter gar nicht so kalt. Nur ein einziges Mal ist die Temperatur auf zwei Grad abgesunken und gestern Nacht auf 6 Grad. Die restlichen Nächte waren mit zehn bis 14 Grad auszuhalten. Vor vier Jahren hat Alessandro indes in den frühen Morgenstunden dünnes Eis auf einer Pfütze gefunden. Sein erstes Eis, das nicht aus dem Gefrierfach des Kühlschrankes kam. Freudestrahlend hielt er es mir entgegen. Schwupp war es auch schon weg geschmolzen.

Des einen Freud, des anderen Leid. Obwohl, leiden werden sie alle. Die Bauern wegen der Schäden, die Verbraucher wegen der steigenden Preise, die Regierung wegen der Inflation, die durch die steigenden Lebensmittelpreise noch ein wenig mehr angeheizt wird. Nur die Tourismusbranche, die reibt sich die Hände. Die reibe ich mir auch. Abends um 19 Uhr sind es 12 Grad. Nicht so schlimm, wäre da nicht die Luftfeuchte von beinahe hundert Prozent. Da kriecht die Kälte in die Knochen, hat die Wärmeflasche Hochsaison. Mit Schaffell und Wärmeflasche auf dem Schoß mache ich mir warme Gedanken. Alessandro lästert. Ich müsste die Kälte doch gewohnt sein, sagt er. Dass die Häuser in Deutschland mit Zentralheizungen ausgestattet sind, ignoriert er. Hier kommen erst seit ein, zwei Jahren die elektrischen Radialheizer in Mode. Die Stromrechnung am Ende des Monats beschränkt ihren Einsatz aber auf ein Minimum. Nicht jeder verdient gut genug, um sich diese Wärme leisten zu können. Die Bewohner auf dem Land haben da den Städtern gegenüber einen Vorteil. Viele haben einen Holzofen oder Holzherd. Das dafür notwendige Kleinholz liegt sozusagen vor der Haustür herum. Eigentlich wollte ich einen Holzofen auch schon gebaut haben. Nur ist immer gleichzeitig so viel zu tun und in der Prioritätenliste steht er eben nicht an erster Stelle. Sind es doch nur wenige Tage im Jahr, an denen wir, wie die meisten hier, bibbern. An das Bild mit den beanorakten Angestellten an den Kassen der Supermärkte habe ich mich jedoch noch nicht gewöhnt. Mir kommt jedes Mal eine Mitleidswelle hoch, wenn ich sehe, wie sie da bei der Arbeit so vor sich hin frieren. An die Schulkinder will ich gar nicht denken. Klassenzimmer sind auch nicht geheizt. Nur in den Pausen und im Sportunterricht können sie sich beim Austoben aufwärmen. Wer daheim bleiben kann, hat den Vorteil, dass er unter die Decke kriechen kann. Die anderen ziehen sich zwei, drei Lagen Hosen und Pullis über.

In der Küche unseres Freundes Jorge sorgt hingegen der alte Holzherd für ein Wohlfühlklima. Jorge trägt allerdings auch ein Trauma mit sich herum. Als Schulbub wäre er beinahe erfroren, erzählt er. Damals, in den siebziger Jahren, hat es sogar in Curitiba geschneit. Postkarten und Fotos mit einer dünnen Schneeschicht auf den Grünflächen der Stadt habe ich schon gesehen. Jorge verzieht bei deren Anblick das Gesicht. Zehen und Finger habe er nicht mehr gespürt, so kalt sei es gewesen. Eine Schweinskälte, zetert er und erzählt, wie er nur mit einem T-Shirt und einer dünnen Stoffhose bekleidet mit seinen Geschwistern draußen herum stand, um den Schnee zu sehen. Nein, nein, so ein Schmarrn, auf Schnee kann er verzichten. Davon, dass sein Schneetrauma vielleicht mit der mangelnden Kleidung zu tun hat, will er nichts wissen. Sollte er je Deutschland besuchen, sagt er, dann nur im Hochsommer.

Kommentare

mondin hat gesagt…
Sehr witzig, das höre ich auch immer, aber nicht von João :)
Aber dieses Jahr war es wirklich, zwar nicht sehr lang anhaltend, aber insgesamt KÄLTER als in anderen Jahren. Als ich an besagtem Morgen um 7 Uhr auf dem Weg zur Arbeit die -2 Grad auf dem Thermometer in der Stadtmitte sah, musste ich schon lachen ;)
Mensch, Gabriela, schick' den Artikel doch an's Brasilienfreunde-Forum !!
LG Ursel

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