Für die Wahl zählt jede Nummer

Ihre Haare sind geflochten und zu einem Kranz gebunden, so als würde sie gleich als Marketenderin bei einem Trachtenumzug mitwirken. Dort würde sie allerdings genauso auffallen, wie sie es auch hier tut. Hier, das ist im Süden Brasiliens, in dem, anders als in den restlichen Bundesstaaten, die Mehrheit der Bevölkerung eine weisse Hautfarbe hat und von Polen, Italienern, Ukrainern, Deutschen und anderen Europäern abstammt. Ihre Haut hingegen hat die Farbe von Waldhonig, ihre Haare sind blondiert und sie ist ein Kind von mehreren Kontinenten. Sie fällt auf. Genau das will sie. Nicht um ihretwillen, sondern um Lauro zu unterstützen.

Lauro ist einer der 15.365 Kandidaten, die am 5. Oktober zum Bürgermeister gewählt werden wollen. In den meisten der 5.565 brasilianischen Municípios kämpfen drei oder mehr Kandidaten mit Fernsehspots, Plakaten, Handwurfzettel und ständiger Beschallung um die Gunst des Wählers. Ein Município entspricht in etwa einer Gemeinde oder einer Stadt, kann allerdings von der dazugehörigen Fläche her gesehen, wesentlich grösser als ein bayerischer Landkreis sein.


Wähle Nummer 12, die Abordnung der Wahrheit drängt ins eine Ohr, während das andere noch mit den fünf Entchen beschäftigt ist, die auf dem See schwimmen. Eine Zwei sieht wie ein Entchen aus und die Nummer des Kandidaten ist 22 222, fünf mal ein Entchen, lasse ich mich aufklären. Der Gol, ein abgespeckter Golf, dessen Kofferraum eigens für das Vorwahlgeschehen mit riesigen Lautsprecherboxen ausgestattet wurde, zuckelt langsam über die Sandstrasse vor unserem Haus dahin, im Fenster eine rote Fahne des Kandidaten geklemmt. Ein Pferd, das am Bachufer grast, unsere Katzen, die sich auf der Mauer sonnen, und ich mit meiner Kamera, sind die einzigen, die ihm noch Aufmerksamkeit schenken. Der Rest der Anwohner nimmt die lautstarken Durchsagen längst schon nicht mehr wahr. Nach sechs Wochen Wahlspotbeschallung hat das Gehirn die Prioritäten für die Wahrnehmung neu geordnet, lässt die Ankündigungen zur Veränderung und andere Versprechungen nicht mehr bis zum Bewusstsein durchdringen.

Dennoch ist es schwierig, dem Geschehen zu entkommen. In einigen Gärten der Nachbarschaft haben sie riesige Plakate auf schnell zusammen gezimmerten Gerüsten aufgeklebt. Auf ihnen die Konterfeis der Kandidaten, umrahmt mit Fahnen, die je nach Parteizugehörigkeit blau, gelb, grün oder rot sind. Fahnenwälder sind an allen möglichen Orten aus dem Nichts erwachsen. Jugendliche, die sich ein paar Reais verdienen wollen, stehen Fahneschwenkend vor Supermärkten und dort an den Strassen, wo die Autofahrer durch Lombadas (Bodenschwellen) zum Langsamfahren gezwungen werden. Wer das Autofenster herunter gekurbelt hat, bekommt beim Passieren gleich ein paar Zettel auf den Schoss geworfen. “Wähle 45” ist darauf zu lesen oder “14 666” oder sonst irgendeine Nummer, die unter und über dem Foto eines Kopfes steht. Wer sich nicht das Gesicht auf dem Zettel merkt, prägt sich vielleicht die Nummer ein. Sie ist wichtig. Wichtiger als der Name oder sonstwas. Gewählt wird mit Nummern. In kleine Maschine werden am kommenden Sonntag die Wähler ihre zwei Nummern für den bevorzugten Bürgermeisterkandidaten eintippen, fünf Nummern für den Gemeinderat. Zur Sicherheit zeigt die Maschine aber auch noch das Konterfei zur Nummer an. Vielleicht merkt sich der ein oder andere Wähler ja doch das Gesicht zur Nummer. Bei all den Nummern wundert es mich indes nicht mehr, dass viele Bürger kurz nach der Wahl schon vergessen haben werden, wem sie ihre Stimme gegeben haben. Auch Nummern sind wie Schall und Rauch und die meisten der Kandidaten verschwinden nach der Wahl ebenso schnell wieder. Nur wenige verirren sich dann noch in die Periferien ihrer Orte, zu den Menschen, um deren Stimmen sie jetzt mit beinahe allen Mitteln heischen. Da wird schon mal ein Basispaket mit Grundnahrungsmittel am Gartenzaun überreicht und mit dem ermahnenden Hinweis versehen, dass sie dieses nur bekommen, wenn sie die richtige Nummer wählen. Erlaubt ist dies nicht. Doch wer will schon kontrollieren, ob wer, was, wie und warum bekommen hat, in einem Land, das 26 mal so gross ist wie Deutschland?


Neben der kleinen Tierfutterhandlung, zu der ich jede Woche fahre, haben sie ein Wahlbüro eingerichtet, ein Comitê, an dessen Eingang in riesigen Lettern die 12 prangert. Die Zwölf für die Partei, die Zwölf für den Bürgermeisterkandidaten. Ein dutzend Leute steht lachend davor herum, ein dutzend beschäftigt sich im inneren des Büros mit der Wahlstrategie und anderen Aufgaben. Neue Fahnenträger werden angeheuert, Benzingutscheine ausgeteilt, für diejenigen, die mit Werbung am Heck oder Lautsprecheransagen durch die Viertel fahren, Umzüge durch die Stadtviertel werden organisiert. Es ist ein lustiges Grüppchen, das sich dort trifft. Die Inhaberin des Ladens findet es nicht lustig. Sie sehnt sich danach, dass bald der 5. Oktober ist, wieder Ruhe einkehrt und das Wahlbüro für die nächsten vier Jahre wieder verschwindet. “Die ganze Zeit über erinnern sie sich nicht an uns und plötzlich wollen sie uns mit ihren Liedern und Papieren für sich gewinnen”, schimpft sie.

Das mit den Papieren wächst sich in einigen Städten nicht nur zum ästhetischen Problem aus. Es kommt die Gemeinden auch teuer. Viele Innenstädte werden in der Wahlzeit mit Propaganda zugepflastert. Alle paar Meter werden den Passanten neue Propagandazettel in die Hand gedrückt. Weil die nicht immer schnell genug zugreifen, oder manche sich der Zettel wieder möglichst schnell entledigen wollen, landen sie auf Strassen und Plätzen und werden vom Wind verweht. Um wenigstens ein gewisses Mass an Sauberkeit zu garantieren, werden in einigen Gemeinden zur Wahlzeit zusätzliche Müllmänner angestellt, die mit nichts anderen beschäftigt sind, als den Papiermüll zu entfernen, der zu einigen Tonnen anwachsen kann. In São Paulo und anderen Großstädten wurden deshalb Verordnungen erlassen, die das Verteilen solcher papierenen Kandidatenkonterfeis an bestimmten Plätzen und Strassen verbieten.

Verboten sind eigentlich auch allzu laute Dauerberieselung mit Wahlspots aus fahrenden Autos heraus. Doch wo kein Kläger, da kein Richter. Wer Bürgermeister werden oder bleiben will, der drückt da schon mal ein Auge zu. Ausserdem hat die Polizei Wichtigeres zu tun, als sich um Lärm und laute Lieder zu kümmern.

Einige der reicheren Kandidaten haben sich einen Refrain komponieren lassen, der sich nun im Stundenrhythmus wie lauwarmer Sommerregen über jeden und alles ergiesst. Andere bedienen sich bekannter Melodien für den Stimmenfang. “Für Elise”, “Von den blauen Bergen kommen wir”, sogar “Spiel mir das Lied vom Tod” und der Titelsong vom Film “Der Untergang der Titanic” sind dabei. Im Kampf um das Auffallen zählt alles.

Bei den Werbespot in Radio und Fernsehen wird mehr auf Reime gesetzt, nach dem Motto “Wir werden euch beisteh’n, wähle die Dreizehn”. Nicht immer ergeben sie einen Sinn, wie auch so manch anderes in den Wahlspots Gesagtes. Da erzählt ein Universitätsdirektor, dass er den Studenten eine höhere Priorität einräumen will, so er denn zum Bürgermeister gewählt werde. “Priorität Eins” reiche nicht. Nein, “Null Priorität” müsse es sein. Eine der wenigen Kandidatinnen für ein Bürgermeistersamt, will eine Veränderung und zwar “lieber jetzt, als zu spät”. Sie zählt zur Minderheit. Denn ähnlich wie in Deutschland ist auch hier in Brasilien die Zahl der potentiellen Bürgermeisterinnen nicht gerade hoch. Gerade einmal 41 Frauen sind es, die sich in den 5.565 Gemeinden als Kandidatin für ein Bürgermeisteramt zur Wahl stellen. Bei den Gemeinderatskandidaten ist das Verhältnis ein wenig besser. Dort sind fast zehn Prozent der Kandidaten Frauen. Allerdings kann es auch gefährlich sein, sich zur Wahl zu stellen. Nach offiziellen Angaben wurden in den vergangenen Monaten zwischen acht und zehn Rats- und Bürgermeisterkandidaten ermordet. Die unterschiedlichen Zahlen entstehen dadurch, weil nicht jeder Mord eines Kandidaten als "politisch motiviert" eingestuft wird.

Zurück zu den Wahlspots im Fernsehen. Sie nehmen einen breiten Raum ein. Nach den Abendnachrichten, bevor die Haupt-Novella beginnt, die Seifenoper, die viele vor dem Bildschirm bannt, gibt es eine halbe Stunde kostenloses Wahlprogramm. Ganz kostenlos ist es natürlich nicht. Zwar zahlen die Parteien nichts für ihren Auftritt, die Wähler hingegen schon: in Form von Steuern. Es ist ein interessantes Spektrum an Parteien, das sich zwischen Abendnachrichten und Novella vorstellt. Zu den üblichen Arbeiter-, Sozialistischen und Demokratischen Parteien, reiht sich die “Linke Front”, und das “Movimento Hip Hop”, die Hip-Hop-Bewegung. Letztere zählen nicht gerade zu den grossen Volksparteien. Und das ist ein kleines Problem für sie. Denn, die Grösse der Partei bestimmt die kostenfreie Sendezeit in Funk und Fernsehen. Je grösser die Partei, desto mehr Zeit. Weil es aber auch eine Mindestlausel für die Sendezeit gibt und so manche kleine Partei diese Hürde alleine nicht passiert, schliessen sie sich schon mal zusammen, um auch ins Fernsehen zu kommen. Für die Kandidaten, die sich in den Spots der Kleinparteien vorstellen sollen, bleibt dann oft kaum genug Zeit, um ihren Namen und ihre Nummer zu nennen. Um den Einheitsbrei dieser Schnellwahlspots zu entfliehen, wird in die Klamotten und Trickkiste gegriffen, macht der ein oder andere Kandidat schon einmal einen Handstand, stottert, jodelt oder blondiert sich die Haare und kleidet sich im bayerischen Trachtenlook, um “Wähle 70, wähle Lauro”, zu sagen.

Am 5. Oktober ist es aus damit. Dann werden meine Ohren wieder mir gehören, wird mein Wahrnehmungsvermögen nicht mehr mit Filterarbeit beschäftigt sein. Am 5. Oktober wird gewählt. Mit Bussen werden sie in unserer Siedlung Wähler einsammeln und zu den Schulen fahren, wo die Wahlmaschinen zwischen Pappwänden aufgestellt sind. Schliesslich soll jeder wählen, auch der, der kein Auto hat oder Fahrgeld für den Bus. Denn gewählt werden muss. Egal, ob sie wollen oder nicht. Anders als in Deutschland ist die Wahl hier Pflicht. Wer nicht wählt, muss sich dafür rechtfertigen. Tut er das nicht oder rechtfertigt er sich zu oft, wird eine Strafe fällig und wird irgendwann der Wahltitel aberkannt. Nur mit dem ist es aber möglich sich auf öffentliche Ausschreibungen zu bewerben, zum Beispiel für eine Stelle als Motorista der Gemeinde oder als Postbote.

Kommentare

Ursel hat gesagt…
Liebe Gabriela,

nicht wahr, Dir tut es auch leid, dass Du Dir unter all' den lustigen Kandidaten keinen aussuchen kannst ??
Wetten, dass nicht ?!
Du, wir haben uns doch noch einen Riesenaufkleber mit den Kandidaten der PT aus Hinterfenster des Autos kleben lassen, grins..
na gut, uns geht es mehr darum, die Partei zu unterstützen, auch wenn die Kandidaten nicht völlig überzeugend sind.
Gegenüber all den rechten Kandidaten sollen sie schon auch ihre Chance haben..
João wird den Wahlsonntag wiedermal als Wahlhelfer im Wahlbüro verbringen und alles hautnah mitbekommen.

Ich wünsche unsern Städten Glück und Verstand !

Liebe Grüsse
Ursel
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Liebe Ursel,
ich glaube, sie brauchen ganz viel Glück, weil das mit dem Verstand ist so eine Sache... ich sage da nur "Malufi".
Bei uns hier bleibt den Bürgern wenig Wahl. Von den beiden Kandidaten wäre es besser, keinen zu wählen. Das ist ungefähr so, wie die Wahl zwischen Belzebub und Teufel. Da bin ich froh drum, dass ich nicht wählen muss...
Was macht dein Garten?
werde nachher noch auf deinem blog vorbeischauen...
liebe Grüsse
Gabriela

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