Ein wenig versumpft


Ein grundtiefer und gleichzeitig greller Schrei durchdrang die Ruhe. Nichts war mehr zu hören. Nicht einmal mehr das Schnarren und Zirpen der Heuschrecken und Grillen. Vögel waren erschrocken aufgeflattert und Alessandro starrte mich entsetzt an. In Träumen sah ich mich oft schon scheitern beim Versuch, angesichts einer misslichen Situation zu schreien. Kein Ton entrang sich meiner Kehle. Nichts. Im Traum. Jetzt wusste ich hingegen, wenn es darauf ankommt, kann ich äußerst schnell mit einem lauten Schrei reagieren. Die Einsicht beruhigte mich ein wenig, auch wenn es an meiner Situation nichts änderte.

Eben spürte ich noch festen Grund unter mir. Plötzlich war er verschwunden, steckte ich bis zu den Oberschenkel in einem Sumpfloch. Mit einem Ruck hatte es mir den Boden unter den Füssen weggezogen, begleitet von meinem Schrei. Alessandro, der ohne einzusacken vorausgegangen war, versuchte sich mir zu nähern. "Ruhe bewahren. In Brasilien gibt es keinen Treibsand. Du kommst da ganz einfach wieder raus. Du darfst nur nicht wild um dich treten." Scherzkeks. Nicht einmal ein sanftes Treten war mir möglich. Der Schlamm hatte sich fest um meine Beine gezurrt. Alessandro streckte mir seine Hand entgegen. Wie wollte er mich damit herausziehen? Beim leisen Versuch, mein Gewicht auf eins der Beine zu verlagern, um nach der Hand greifen zu können, sackte ich Zentimeter für Zentimeter tiefer ein. Nichts gab es zum Festhalten. Kein Ast, keine Liane, kein Nichts. Eine Art Schilf und Sumpfgras, die ich wenige Minuten vorher noch fotografiert hatte, weil ich sie so idyllisch fand, boten trotz ihrer langen Wurzeln keinerlei Halt.

Wie tief kann ein Mensch hier versinken? Und wie lange dauert es, bis sich der Schlamm über mir schließt. Wahrscheinlich kann ich ewig im Matsch stehen, dachte ich. Was mich tatsächlich aber beunruhigte war die Möglichkeit, dass es irgendwelche Egel geben könnte, die es sich in meinen mit mir versumpften Gummistiefeln bequem machen könnten. Von Schlangen ganz zu schweigen. Alessandro blieb äusserlich völlig ruhig, versuchte sich näher an mich heranzutasten. Hühnertapperl für Hühnertapperl. Bis er einen festen Tritt gefunden hatte und mir seine Hand reichen konnte. Mit der einen Hand stützte ich mich so gut es ging auf die Wurzel eines Sumpfgrases. Die andere überliess ich Alessandro. Erleichtert stellte ich fest, dass das Rettungsmanöver klappt. Nach einigen Minuten war ich vorerst befreit. Trockenes Terrain war indes weder vor noch hinter uns in Sicht.

"Du kannst vielleicht laut schreien", stellte Alessandro fest. "Dein Schrei war mindestens bis zum nächsten Nachbarn zu hören." Der nächste Nachbar wäre einen guten Kilometer entfernt, wenn er denn zu Hause gewesen wäre. Was nicht der Fall war, weil sein Tor verschlossen war, als wir kurz vorher vorbei gefahren waren. Wir waren mutterseelenallein auf unserem Grundstück am Rande der Mata Atlântica. Wir wollten eigentlich nur die Grenzen abschreiten und uns einen genaueren Überblick über unseren künftigen Wohnort schaffen. Von Überblick keine Spur. Vor uns Sumpf, hinter uns Sumpf. Jetzt hätte ich gerne ein wenig fliegen mögen, wenn ich es denn gekonnt hätte.

Mutig stapften wir weiter. Einmal aus dem Sumpf gezogen, wird es auch ein zweites Mal klappen. Plötzlich kippte Alessandro nach hinten um. Jetzt war er es, der eingesackt war. Zum Glück nur mit einem Bein und schon Nahe des Sumpfufers. Bis ich zu ihm aufschliessen konnte, hatte er es schon alleine geschafft, herauszukommen.

Auf festem Boden angelangt, verschnauften wir erst einmal. Laut Plan hätte der kleine Sumpf erst nach etwa 120 Metern sein dürfen. In Natura waren es nicht einmal 50 Meter zwischen Sumpf und Strasse. Später zeigte sich, dass der Sumpf nur eine Vorwarnung war. Der grosse, der nach 120 Metern, kam noch. Eben nach 120 Metern. Wir sind den zweiten Teil nicht durchwatet. Immerhin hatten wir ja noch den ersten Teil bei unserem Rückweg vor uns. Der Rückweg stellte sich einfacher heraus. Wir waren aufmerksamer und wir hatten eine Technik entwickelt, mit der wir weniger einsanken. Wie Schneeschuhe im Pulverschnee benutzten wir die Wurzeln des Sumpfgrases. Sie verlangsamten das Einsinken und gaben uns so ein wenig Zeit, um den nächsten Schritt zu tun.

Wieder oben angekommen, das Dickicht hinter uns lassend, setzten wir uns erleichtert auf die Waldbodenstrasse. Jetzt lachten wir, wenn wir auch ein wenig darüber enttäuscht waren, dass unser Grundstück mehr Sumpfgebiet hat, als wir dachten. Sumpfgebiet ist tabu. Von den 3,5 Hektarn wird also einiges wegfallen, das wir tatsächlich nutzen können. Auch müssen wir, so wie es aussieht, zu den beiden Gräben, die den Hang durchzuiehen, 30 Meter Abstand einhalten, zumindest was das Bauen betrifft. Was das Anpflanzen und Nutzen von Bambus oder medizinischen Kräutern in diesem Bereich betrifft, herrscht Unklarheit. Einer sagt so, einer so. Auslegungssache. Wenn wir Glück haben, erwischen wir beim Besuch der Umweltbehörde einen freundlichen Beamten, der uns einen Teil des Uferstreifens nutzen lässt. Wenn wir Pech haben, haben wir eine Oase, die sich nicht wirklich landwirtschaftlich nutzen lässt. Das Gesetz spricht familiär genutzten landwirtschaftlichen Anwesen, das Recht der Nutzung zu, auch dann, wenn es sich um eine Schutzzone handelt. Dann gibt es Auflagen, wie eine nachhaltige Landwirtschaft, der Verzicht auf Agrogifte und eine Mischkultur. Ökologischer Landbau, wie wir ihn sowieso vorhaben. Allerdings sind wir neue "Landbesetzer" und geniessen somit nicht Bestandsschutz. Überhaupt gelten wir nicht einmal als Landbesetzer, weil wir ja ein ganzes Stück entfernt von hier zur Miete wohnen. Um als Landbesetzer zu gelten, müssten wir das Grundstück in Beschlag nehmen und schon einmal damit anfangen, es zu bewirtschaften und vor allem ein Haus zu bauen. Nach dem Umweltrecht wäre das illegal, weil vor der Nutzung eine Art Augsgleichsplan gemacht werden muss, der mindestens 20 Prozent der Fläche als Reserve für die Natur vorsehen muss. Würden wir es dennoch schaffen, fünf Jahre unbehelligt von der Umweltbehörde auf unserem Grundstück zu leben, hätten wir Bestandsschutz. Besetzen wir das Grundstück nicht und geben einen Plan ein, wie wir die Fläche nutzen wollen und welche Teile der Natur überlassen bleiben sollen, kann es uns passieren, dass die Behörden uns einen Strich durch die Rechnung machen und eine Besiedlung des Gebietes ablehnen. Vielleicht sollten wir uns einfach einen politischen Verbündeten suchen. Es ist Wahljahr, da können politische Fürsprecher bei der Jagd nach vermeintlichen Stimmen Wunder wirken. Oder wir könnten alles gleichzeitig machen. Besetzen, bewirtschaften, Plan eingeben.

Noch eine Weile diskutierten wir, bevor wir uns auf den Weg zum zweiten Graben machten. Er zieht sich längs von oben nach unten durch den Hang. Wir sind ihn nicht abgegangen. Er ist von einem wunderschönen Baumgürtel begleitet. Weitgehend fester Boden also. Stattdessen machten wir uns zur trockenen Mitte auf. Sie ist mit einem fast Mannshohem Gras bewachsen, das bis vor zwei Jahren noch regelmässig von Büffeln abgeweidet wurde. Aprubt bleibt Alessandro stehen, hebt etwas auf und hält mir stolz einen silber glänzenden Hautlappen entgegen. Schlangenhaut. Etwa zweimal so gross wie meine Hand. Sie muss sich erst vor kurzem gehäutet haben und sie muss riesig gross sein. Anaconda III. Ein mulmiges Gefühl. Irgendwo hier im Gestrüpp schlummert in unserer Nähe ein riesiges Schlangentier. Dass es bis zu sechs Meter grosse und Oberschenkeldicke Schlangen hier gibt, haben sie erst neulich in einer Reportage gebracht. Daisy, die Noch-Grundstückseigentümerin, hatte, wie sie erzählte, schon so eine auf ihrer Toilette. Einer Toilette, deren Tür nicht richtig schliesst und die, wie Plumpsklos früher, etwas abseits des Hauses steht. "Keine Schlangenhaut. Die Haut ist von einer Echse", sagte Alessandro. Muss eine Riesenechse sein. Mich verliess mein restlicher Mut und die Neugier auf das restliche Grundstück. Abenteuer vorerst beendet. "Lass uns nach Hause fahren."


Das Abenteuer war noch nicht beendet. Eine hochstehende Wurzel auf dem Waldweg riss uns den Auspuff ab. Begleitet von lautem Dröhnen sind wir zur nächsten Stadt gefahren, haben den Auspuff wieder anschweissen lassen. Kurz später hätte uns beinahe noch die Polizei aufgehalten. Weil die Übersetzerin von Weihnachten an bis heute in Urlaub war, konnte ich meinen Führerschein noch nicht anerkennen lassen. Dazu fehlte mir die amtlich beglaubigte Übersetzung. Die bisherige Übersetzung war blöderweise mit einem "Verfallsdatum" versehen, was mir aber erst Weihnachten aufgefallen war. Kurz vor der Abbiegung zu unserem Heim standen zwei Polizisten am Strassenrand, führten Routinekontrollen durch. Als wir mit unserem Auto auf ihrer Höhe waren, hob der eine den Arm. Mir sackte das Herz in die Hose. Er winkte mich durch. Aufgehalten wurde der Wagen hinter mir. Doch ein Glückstag.

Zu Hause angekommen, versuchten wir erst einmal, alle Eindrücke und Gedanken zu ordnen. Es wird keine leichte Aufgabe sein, herauszufinden, wie wir die 3,5 Hektar Sumpf-Hang-Regenwald-Landschaft gewinnbringend nutzen und dabei gleichzeitig alle Umweltgesetze einhalten können.

Kommentare

der Gauzibauz hat gesagt…
Hi Gabriela,
da hast ja grad noch mal Glück gehabt!
Unglaublich!
Und! unglaublich mutig bist du.
Grüsse//Erika
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Erika,
nach dem Sumpferlebnis hat mich der Mut ein wenig verlassen. Zum Glück regnet es momentan, so dass wir nicht aufs Grundstück können. So habe ich ein wenig Zeit gewonnen, mir wieder neuen Mut wachsen zu lassen für die nächste Besichtigungstour... Leider sind wir immer noch nicht weiter gekommen, was die Frage betrifft, ob und unter welchen Voraussetzungen wir bauen dürfen....
Liebe Grüsse
Gabriela
mondin hat gesagt…
Du, Gabriela,

wieso denn besetzen ??
Das verstehe ich nicht ganz. Wollt Ihr's drauf ankommen lassen und erstmal nix rieskieren mit Kaufen ?
Gar nicht unschlau, hehe.

Uff, Sumpf, oha. Mannomann.
Vielleicht solltet Ihr Euch Skier besorgen ?

Zum Führerschein:
da scheinst Du schlauer zu sein als ich :
was muss man denn da alles machen, um ihn anerkennen zu lassen ??
Ne gültig Übersetzung habe ich immer bei mir, aber ich dachte bisher, dass ich auf mienen RNE warten muss, bis ich das angehen kann..und der dauert noch.
Es stecken ca. 15.000 Dokumente in der Warteschlange in Brasília.
Auch ne grosse Schlange :)

Hast Du ne Adresse, wo ich mich da schlaumachen kann ??

LG und viel Erfolg beim Rumsumpfen
passt auf Euch auf !!
Ursel
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Ursel,
das mit dem Besetzen gilt auch, wenn du ein Grundstück kaufst, das nur "Posse" (also nicht im Registro geral) war, was bei unserem der Fall ist. Alles ein wenig kompliziert...
Deinen RNE hast du immer noch nicht? Verstehe ich nicht. Ich habe meinen vor 1,5 Jahren schon bekommen. Das ist doch die Karte mit der Permanencia, die wie ein Ausweis für estrangeiros gilt oder? Wenn ja, dann musst du tatsächlich noch warten, denn davon wollen sie eine beglaubigte Kopie und dann noch eine Übersetzung (tradução juramentada), einen Antrag und los geht's. Mehr erfährst du hier: http://celepar7cta.pr.gov.br/detran/atosdg.nsf/5b2029535230b4b98025691a004afe1e/f7d8ba385175128c03256d83004d20f3?OpenDocument
Ursel hat gesagt…
Danke !!!!
Vielleicht schaffe ich es ja mit der Nummer meines RNE, denn die haben ich schon ;)

Gesetzes-dschungel..
Da kann man auch versumpfen, hehe.

LG Ursel
kvinna hat gesagt…
Hmm, das tät' mich interessieren, mit der Echse das! Heute habe ich gesehen, dass Warane FURCHTBARE Krallen haben; und was den versumpften Gesetzes-Dschungel anbelangt: verkehrte Welt!

Einerseits lassen sie sich bestechen und machen überall Laissez-faire, andererseits gucken sie penibel-genau mit dem Satelliten-Auge...

Und dann: Neid wegen ausländischer Herkunft - wow! Ich meine, übertrag' das mal im Geiste auf D!
Sati hat gesagt…
Mein lieber Scholli ... ich plädiere eindeutig für die Lösung des politischen Verbündeten, zack zack, und not-wendigerweise auch Huhn, Eier und andere Gaben zur Bestechung, nämlich der Götter, die für euer Grundstück zuständig sind, zum Beispiel Eleguá, der Wege öffnet, seinen Freund Ogún, der oben auf dem Hügel des Waldes lebt und als Schmied heutzutage auch für das gute Funktionieren eures Autos sorgt und Oshosí, ebenfalls dem Wald verbunden, Jäger und Fischer von Haus aus (Exú, Ogúm, Oxosi) und, wichtig, außerdem für Hilfe bei Schwierigkeiten mit der Justicia sorgt! Natürlich Oshún, die in den Süßwassern lebt und sowohl die Geliebte als auch die Mutter verkörpert. Orisha Oko (Ayizam in Brazil), der Bauer, der für Land, Agrarwirtschaft und Ernte zuständig ist. Und Osaín, der Heilkräuterkundige. Obatalá wegen der Weisheit noch - und vielleicht einfach eine Gabe für alle Orishas, die euch da helfen können und auf eurem Grundstück weilen? Sicher ist es nicht von Schaden.
Übrigens, wie du ja schon sagtest, haben Warane kein wirkliches Interesse an der näheren Begegnung mit Menschen, es sei denn, sie sind noch so zahm und vertrauensselig wie auf Galapagos, wo ich gerne noch hinmöchte, um mit ihnen zusammen am Meer auf den Felsen sitzend den Sonnenuntergang zu bewundern. Es sei denn, du fütterst sie an, wie es ein Paar auf Galapagos gemacht hat - die haben die ganze Bude voll mit ihnen, auf dem Dach und um´s Haus herum sitzen die Warane, aber ebenfalls völlig ungefährlich für den Menschen, solange sie nicht angegriffen oder gezankt werden.
Ich bin beeindruckt von eurer Sumpf-Wanderung! Ihr seid echte Abenteurer. Toll!
Anuja und der diesmal auch echt beeindruckte Rabe

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