Armes reiches Brasilien

Manuele nickt mit dem Kopf in Richtung Strasse. Sechs Jungs ziehen am Restaurant vorbei. Unter die Arme haben sie Handtücher geklemmt. Zwei von ihnen tragen alte Decken lässig über die Schulter geworfen. Der Staub der Sandstrasse hat Hosen, Hemden, Gesichter in ein schmutziges Graubraun verwandelt. "Gleich werden sie um Essen betteln", sagt Manuele. Ein paar Augenblicke später tun sie es. Manuele zuckt nur mit den Schultern und verspricht, ihnen in der Küche etwas zusammenzusuchen.
Sie setzen sich an den Rand der Sandstrasse. Zwei bleiben mit mir auf der Terrasse des Restaurants, um auf das versprochene Essen zu warten.

In São Paulo und anderen grösseren Städten Brasiliens gehören Strassenkinder zum Alltag. Manche sind vor einem alkoholabhängigen oder drogensüchtigen Vater oder Partner ihrer Mütter weggelaufen. Andere haben die Enge der notdürftigen Unterkunft gegen die vermeintliche Freiheit der Strasse eingetauscht. Manche verdienen sich an Ampeln ein wenig Geld, verkaufen Hehlerware, Süssigkeiten, zeigen Kunststücke, weil ihre Eltern auf diesen Zuverdienst angewiesen sind oder weil sie die Rolle des Ernährers übernehmen und gegen die des Schulkindes tauschen.

In São Paulo habe ich ein Projekt für Strassenkinder besichtigt. Tausend Gesichter, tausend bedrückende Gechichten, ewige Armut und Projekte, die den Kreislauf unterbrechen wollen, die wichtig sind und dennoch wie kleine Tropfen auf einen heissen Stein wirken.

Armut gibt es auch hier, an der Küste von Paraná, an der mehr Ferienhäuser als Wohnhäuser stehen. Die kleine Bande von Strassenkindern fällt trotzdem auf. Ich stelle die Fragen, die die Kinder nicht hören wollen. Ob ihre Eltern wüssten wo sie sind, woher sie kommen, warum sie nicht in die Schule gehen. Nur widerwillig antworten sie auf die Fragen, erzählen stattdessen, wie sie von der etwa 120 Kilometer entfernten Stadt Curitiba hierher gekommen sind. Ein Freund habe ihnen einen "Service", einen Job vermittelt. Auf der Ladefläche eines Lastwagens seien sie die Berge herunter gekommen und dann gelaufen. Fünf Reais pro Kopf habe der Job ihnen gebracht. Jetzt wollten sie nach Matinhos einen anderen Freund treffen. Vielleicht wisse der einen besseren Job. Zwischen 12 und 14 Jahre sind sie alt. Obwohl sie abgeklärt von ihrem Leben erzählen wirken sie jünger. Wo sie schlafen werden, will ich wissen. Da kommt Manuele mit dem Essen und Plastikgabeln. Erleichtert, von den Fragen befreit, setzen sich die beiden zu den anderen an den Strassenrand in den Sand und essen.

Was soll ich tun? Die Polizei rufen? Wo würde diese die Jungs hinbringen? Ich erinnere mich an die Geschichte von den im Schlaf erschossenen Strassenkindern, die sich vor ein paar Jahren zugetragen hat, und an Überfälle, bei denen Kinder grundlos Erwachsene niedergestochen haben. Ob ich den Jungs trauen kann?

Für Manuele ist das Thema mit der Essensgabe abgehakt. Zu viele Männer und Frauen kommen, um Essen zu erbetteln. Sie ist bereits abgehärtet.

Mir geht das Bild der Jungs nicht mehr aus dem Kopf. Was für eine Zukunft haben sie? Ohne Schulbildung, ohne richtig lesen und schreiben zu können, werden sie keine Arbeit finden, kein zu Hause bezahlen können, ihr Glück in der Kriminalität suchen, wie es vielleicht auch schon ihre Brüder und Väter getan haben. Was mich dabei umso wütender macht, ist die Tatsache, dass Brasilien kein armes Land ist. Es ist reich. Reich an Bodenschätzen, an Industrie, an landwirtschaftlicher Fläche. 80 Prozent der Bevölkerung bekommt von dem Reichtum indes kaum etwas ab. Und in den Abendnachrichten werden Bilder von Politikern gezeigt, die mal eben zwei Millionen Reais vom Staat in ihre Tasche abgezwackt haben.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
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mondin hat gesagt…
Ja, genau so ist es !

Zu uns kommt jede Woche ein oder zweimal ein junger Mann und fragt nach Lebensmitteln. Meist habe ich auch welche da und er bekommt ein Kilo Bohnen, eine Milch, Nudeln etc. und auch mal abgelegte Kinderkleidung für seine Familie.
Gut,der ist erwachsen, sagt, er habe auch Arbeit, aber verdiene nicht genug. Nachprüfen kann ich's auch nicht, kenne ihn nicht weiter.

Mit den Kindern, das ist viel schlimmer, ja. Und die "Chacina" vor Jahren vor einer Kirche in Rio (oder ?) war ein Aufschrei, der aber dann nach einiger Zeit wieder im Tagesgeschehen unterging.

Seit wann beschäftigst Du Dich mit Brasilien ? Es scheint, dass Du auch schon vor Deiner ersten Reise hierher viel mitbekommen hast !

Was hast Du eigentlich an guter brasilianischer Musik (Música popular brasileira) ? Wir haben schon Einiges als MP3, magst Du was geschickt haben ?

Für mich sind die Texte oft sehr aufschlussreich !! Es hat allerdings Jahre gedauert, bis ich einigermassen was verstanden habe ;) Hab' mich vorher aber auch nie drum gekümmert in Deutschland, sondern die Musik einfach nur so genossen.

Beijos Ursel
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Ursel,
meine Favoritin ist Cassia Eller (glaube so wird sie geschrieben...). Palaramas, Skank finde ich auch toll. Ich verstehe auch nicht alles, habe aber den Vorteil, dass Alessandro in seine Gitarre verliebt ist und viele Texte kennt oder sie sich im Internet sucht. Wenn er Gitarre spielt (fast täglich), bekomme ich somit nebenbei immer eine Unterrichtsstunde :)
CDs haben wir nicht so viele. Das liegt daran, dass wir keinen funktionierenden CD-Spieler haben. Ich habe nur einen Ghettobuster aus D und den kann ich nicht anstöpseln, weil er nur mit 240 V läuft (wir haben 110). Wenn wir das Auto verkauft haben, werden wir uns einen Transformator zulegen, um das Teil endlich nutzen zu können (spielt auch MP3s). Dann können wir mal einen Musikaustausch vornehmen... Das wäre toll!

Ja, das mit den Kindern war in Rio. Es soll aber ähnliche Vorkommnisse auch in São Paulo gegeben haben. Zu uns kommen auch etliche Bettler. Vor allem in der Temporada. Meistens geben wir auch etwas, ausser, wenn sie offensichtlich besoffen sind. In der Regel sind sie wirklich auf Hilfe angewiesen, wenn ich nur daran denke, dass Alessandro im Supermarkt für eine 7-Tage Arbeitswoche mit jeweils 10 bis 12 Stunden am Tag gerade einmal 300 Reais bekommen hat, stellt es mir die Haare auf. Sklaverei. Denn bezahlen kannst du davon vielleicht gerade einmal die Miete.

Hoffe, euch geht's gut und der Husten hat sich gelegt...

beijos Gabriela
Ursel hat gesagt…
Hallo,
ja, der Husten ist auf dem Heimweg..
Ich meinte MP3 als Dateien auf den PC !

Ja, Sklaverei ist genau das richtige Wort.
João hat auch in so manchem Monat nur 700 RS bekommen, allerdings arbeitet er meist nicht mehr als 8 Stunden, mehr hält ein Maurer auch nicht aus ;)
Jetzt, wo er sich von seinem Onkel abgeseilt hat und besser planen kann, läuft es etwas besser.

Liebe Grüsse
Ursel
kvinna hat gesagt…
Jetzt mal ganz ehrlich, Gabriela - adoptier' eins oder zwei. Dann hast du auf jeden Fall ETWAS getan. Käme das für dich gar nicht in Frage??

Entschuldige, wenn ich zu persönlich geworden bin.

Aber das ging mir nicht aus dem Kopf...
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Kvinna,
das mit dem Adoptieren wäre theoretisch möglich. Praktisch durchläufst du hier in Brasilien noch mehr Bürokratismus als in D, wenn du ein Kind adoptieren willst, abgesehen davon, dass du ein bestimmtes Einkommensniveau nachweisen musst, von dem wir weit entfernt sind.
Ein Strassenkind zu adoptieren ist ausserdem nahezu unmöglich, weil erstmal die Eltern ausfindig gemacht werden müssten (was angesichts fehlender Regiestrierungen ein langwieriges Unterfangen ist) und dann erst versucht wird, sie wieder in die Familie einzugliedern, was ich ebenso für sinnvoll halte. Ein Kind, das eine zeitlang auf der Strasse gelebt hat, lässt sich aber oft zudem nicht so leicht integrieren, wie wir uns das vorstellen. Projekte dazu gibt es. Die "Erfolgszahlen" sind allerdings gering. Ausserdem finde ich, dass es mehr bringt, am Grundübel etwas zu ändern, der Armut, der fragwürdigen Verteilung des Reichtums, der mangelnden Erziehung, sprich Schulbildung und und und. Ein Fass ohne Boden, bei dem meine Gaben höchstens ein Tropfen auf den heissen Stein sind - aber immerhin.

He Ursel, ich komme nach Cascavel! 700 R$ sind hier an der Küste ein Traumgehalt! Und Maurer müssen hier vom Morgengrauen bis zum Abend schuften, zumindest macht das der João aus der Nachbarschaft so, um über die Runden zu kommen. Ob Maurer immer Joãos sind? Fiel mir nur gerade so auf, dass der berühmteste Maurer unseres Viertels den gleichen Namen hat wie dein Süsser.
Im Ernst, in den Städten ist die Situation etwas besser, als ausserhalb. Wir überlegen deshalb schon wieder, ob wir nicht doch umziehen sollen. Aber, seufz, der Strand ist einfach zu schön... Naja, wir werden sehen. Momentan suchen wir etwas in Morretes. Immerhin ist das Städtchen wenigstens nur so um 40 Kilometer vom Strand entfernt und äusserst charmant in den Bergen gelegen.

Liebe Grüsse
Gabriela
kvinna hat gesagt…
Klingt ziemlich fundiert und einleuchtend, das mit der Adoption. Ich persönlich habe mich in vielen Dingen zurückgezogen auf eine Art "positive Resignation".

Wie soll ich's beschreiben? Ich kann nix machen, nix ändern, und bin trotzdem voller Zuversicht, voller Vertrauen, dass die Dinge ihren Gang gehen - egal, wie es scheint.

Hm, das ist jetzt mehr so meine persönliche Lebenseinstellung, weil ich zu viele Fronten sehe, an denen ich kämpfen könnte...

Ich weiß nicht, was so eine Begegnung mit Straßenkindern mit mir machen würde...
mondin hat gesagt…
Liebe Gabriela,

Na, wenn Alessandro doch 300 Rs IN DER WOCHE verdient hat, gibt das doch 1200 !? Das ist doch noch besser eigentlich, dachte ich mir.

Hier arbeiten die Maurer von 8-18 Uhr mit Mittagspause, manchmal auch länger. Oft hat João (witzig, der Namensvetter !!) auch noch in der mittagspause was zu erledigen und meist muss der Samstag dran glauben.
Aber, wie das so ist bei Maurern : nix garantiert, jeder Regentag macht Abstriche, die Leute zahlen nicht fristgerecht und: Mann macht sich kaputt dabei !
Ich bin sowieso ganz baff, wie gut er das trotzdem wegsteckt, wo er doch noch nie so am Stück gearbeitet ghat, geschweige denn, um die Familie zu ernähren.

Aber ganz abgesehen davon : kommt doch wirklich mal vorbei, irgendwann, wenn's geht !!

Ganz liebe Grüsse
Ursel

Hallo Kvinna,

zu Deinem Kommentar mit der Adoption : ich denke auch, dass da global gedacht und lokal gehandelt werden muss. Z.B. drauf achten, woher der Kaffe kommt, den wir trinken, ob daran nur die ZwischenhÄndler verdienen. Geh1 mal in einen Weltladen, die haben dort ganz beeindruckende Zahlen !! Und vor allem : die haben Alternativen mit ihrem gleichzeitig meist auch organisch angebauten Angebot..
Sogar in den Supermärkten gibt es doch schon Transfair-Kaffee, - Schokolade, - Honig, - Tee etc. etc.
Und auf den Wochenmärkten gibt's das Angebot aus der Region, das nicht um die halbe Welt gekarrt wird..
das nur, um einige Ideen zu nennen, was man lokal machen kann !

Mit Adoption kann ich mich Gabriela nur anschliessen, wobei es natürlich unzählige brasilianische Familien gibt, die "einfach so", grossherzig, wie Brasilianer sind !!, fremde Kinder mit aufziehen ohne Behördenkram.
Dass das u.U. aber nicht einfach ist, hat mein Mann selbst erlebt, der mit einem fast gleichaltrigen Jungen aufwuchs, den seine Oma angenommen hatte. Leider gab es dann Probleme mit Drogen und leider ertrank der Junge in einem See. Trotzdem gehört er zur Familie und alle heulen Rotz und Wasser, wenn sie sich an ihn erinnern..

Lg Ursel
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
äh 300 im MONAT!!! Ich hatte mal ein wenig gerechnet und kam dann auf einen Stundenlohn von 80 cent. Fernanda traf es noch schlechter, sie arbeitete in der Eisdiele für 250 RS im Monat und durfte noch dazu das Eis bezahlen, das sie hin und wieder schleckte.
Ja, ich finde es auch erstaunlich, wie die meisten Brasilianer sich abrackern - und dabei kaputt machen. Hoffe, dein João kann bald bei der Sanepar anfangen. Wenigstens muss da nicht ganz so geschuftet werden, glaube ich zumindest.
Danke für deinen Hinweis mit dem global Denken. Stimmt, so können wir alle etwas tun (!), egal wo in der Welt wir gerade so sind....
liebe Grüsse
Gabriela
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
hallo kvinna,
nicht resignieren. Du trägst doch schon mit der Erziehung deiner Kinder kräftig für eine Veränderung bei. Zumindest habe ich den Eindruck, dass du reflektierst, was dir so in deinem Leben begegnet und das färbt ab auf deine Kinder! Kopf hoch.
Anfangs war mir auch ganz Elend als ich Projekte und Favelas besucht habe. Mittlerweile weiss ich, dass ich nicht allen helfen kann, aber eben meinen Beitrag leisten kann, indem ich andere ermutige, aufmerksam mache und eben gebe, manchmal nur ein Gespräch und ein Glas Saft, manchmal etwas Geld oder Klamotten, die wir nicht so oft anhaben...
liebe Grüsse
Gabriela
Ursel hat gesagt…
Uff, 300 im Monat, das ist heftig !
Der Lohn für Krankenschwestern liegt hier bei ca. 500 RS.
Viele Kolleginnen arbeiten deshalb an 2 oder mehr Stellen.
Das werde ich mir trotzdem nicht antun.

Schönen Abend noch
Ursel

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