Schluss mit Schildkröte

Wir sind postlos. Ihr könnt mir jetzt Briefe schreiben, so viel ihr wollt, Pakete schicken, bis zum Abwinken. Ich werde sie nicht bekommen.

Die Postfiliale, die aus einer Reihe von Schliessfächern bestand, die von einem freundlichen älteren Herren befüllt wurden, ist verwaist. Keiner verteilt mehr Briefe, Karten und Benachrichtigungen auf die Fächer, oder ordnet sie alphabetisch, für diejenigen, die kein Postfach haben. Keiner läuft mir mehr auf der Strasse hinterher, wenn ein Paket für mich angekommen ist. Sie haben “Tartaruga”, Schildkröte”, wie unsere Poststelle hiess, einfach geschlossen.

Jetzt hängt am Supermarkt ein kleines Schild mit der Aufschrift “Post”. Schliessfächer gibt es dort nicht, auch das nicht, was zu einer Poststelle gehört: Briefe. Die liegen alle irgendwo in Matinhos, der Stadt, zu der unsere Siedlung gehört. Die ist nur etwa 14 Kilometer von hier entfernt.

Wir könnten jetzt einen Kurierdienst einrichten, um dort unsere Post abzuholen. Das ist aber auch nicht so einfach, weil die Post nicht an jeden ausgehändigt wird. Ich könnte selbst in den Bus steigen und sie abholen. Ja, das könnte ich. Da würde ich dann nebenbei jedesmal so um die drei Stunden mit der Hinfahrt, dem Gang zur Post und dem Warten auf den Bus für die Rückfahrt verbringen. Einen Brief aus der Heimat würde ich so mit einem Haufen Zeit, einigen Schneiderfahrten und fünf Reais Busgeld, etwa zwei Euro, bezahlen.

Das Durcheinander liege nur an der Übergangszeit, bis eine Lösung gefunden sei, heisst es. Bis Lösungen gefunden werden, kann es aber eine Zeitlang dauern. Eine zeitlang hat es auch gedauert, bis wir überhaupt von dem Postdrama erfahren haben. Wahrscheinlich wurde es schon irgendwo frühzeitig bekannt gegeben. In irgendeiner Stube der Gemeindeverwaltung hing wahrscheinlich für eine Woche ein Zettel mit der Information aus. Bescheid wussten auch unsere “Delegados”, unsere Ortssprecher. Die wussten nur nicht so recht, was sie mit der Information anfangen sollten und haben sie deshalb gar nicht erst publik gemacht.

Ein wenig komme ich mir vor wie beim “Anhalter durch die Galaxis”. “Was regt ihr Erdlinge euch auf?”, fragen die Vogonen. Schliesslich sei doch, nur ein paar Lichtjahre entfernt, in Betegeuze öffentlich bekannt gegeben worden, dass die Erde zerstört werden soll, um einem intergallaktischen Weg Platz zu machen.

Hätten wir rechtzeitig von der Schliessung unserer Poststelle erfahren, hätte das aber auch nicht viel geändert. Sie hätten versucht, mit dem Bürgermeister zu verhandeln, hat mir einer der Ortssprecher verraten. Es sei aber nichts zu machen gewesen. Schuld sei eine Gesetzesänderung. Nach der müsste die Gemeinde für alle Poststellen ausserhalb der Zentrale eine Gebühr bezahlen und nebenbei auch noch die Kosten für den Unterhalt und den Postmitarbeiter übernehmen. Die Gemeinde indes, sah sich dafür als nicht zuständig an, mit der Folge, dass wir jetzt Postlos sind. Wir, das sind keineswegs nur ein paar Leute. Wir, das sind so um die 3000 Menschen.

Wir sollten uns zusammen tun. Angenommen, von den 3000 sind so um die 1000 Erwachsene, könnten wir einen kleinen Terror veranstalten. Wenn jeder von uns jeden Tag bei der Postzentrale anruft, um zu fragen, ob Post für ihn angekommen ist, müsste die Post allein, für diesen Dienst schon jemanden einstellen. Vielleicht hilft es já was. Obwohl, sicher bin ich mir da auch nicht. So wie ich die kenne, legen sie dann einfach den Hörer neben das Telefon. Das haben sie heute wahrscheinlich auch gemacht. Ich bin jedenfalls nicht durchgekommen.

Zum Glück trifft es mich aber nur mit der Post. Andere haben weniger Glück. Chronisch Kranke zum Beispiel. Der Governador von Paraná, dem brasilianischen Bundesstaat, in dem ich lebe, hatte mal eben beschlossen, ein Gesetz zur kostenlosen Auslieferung von Medikamenten für Menschen zu ändern, die an Parkinsson, Alzheimer oder anderen Krankheiten leiden, oder wegen einer Organtransplantation täglich Medizin einnehmen müssen. Das hat dazu geführt, dass Tabletten und Tropfen nur noch Portionsweise ausgegeben wurden und das auch nur in bestimmten Apotheken in grösseren Städten. Manche Kranke mussten weit über hundert Kilometer mehrmals wöchentlich mit dem Omnibus zurücklegen, um an die lebensnotwendige Medizin zu kommen. Einige gingen dabei leer aus, weil die Medikamente, die zentral verteilt werden, nicht ankamen. Die Auslegung des Gesetzes wurde schon wieder geändert. In einigen Apotheken sind trotzdem noch nicht alle der notwendigen Pharmazeutika angekommen.

Kommentare

sam hat gesagt…
Das ist ja der Hammer!
Und mir wird wieder mal bewusst, wie verwöhnt wir hier sind. Was für Stürme der Entrüstung im Volk losbrechen, wenn wo mal einen halben Tag das Telefon ausfällt oder der Strom spinnt oder beim Aldi zuwenig PCs vorrätig sind oder andere derlei Unpässlichkeiten.
Ja, was macht ihr jetzt? Macht ihr überhaupt was?

Auf das bald was passieren möge in die richtige Richtung!
Grüsse,
Sam
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Sam,
gute Frage. Ich mit meiner deutschen Entrüsteinstellung bin gleich mal mit der Idee einer Unterschriftenliste losgeprescht, auch, um zu erfahren, ob vielleicht schon jemand was gemacht hat. Also Unterschriften gab's keine, dafür jede Menge Gerüchte und vor allem typisch brasilianisch der Hinweis: da kann man nichts machen, also warten wir mal, bis irgendetwas passiert. Wie mir erzählt wurde, waren wohl ein paar Frauen dennoch beim Bürgermeister. Der hat sie so ziemlich als "dumme Weiber" abgekanzelt und einfach stehen lassen. Die Frauen sind zwar entrüstet, glauben aber an die nächste Wahl und wollen sich nicht weiter mit dem Bürgermeister anlegen, weil der am längeren Hebel sitzt, wie sie sagen, und ihnen Steine in den Weg legen könnte. Das kann er tatsächlich. Gegen die Willkür gibt es zwar Gesetze, nur der rechtliche Weg ist lange, zieht sich manchmal Jahrzehnte hin und bringt in der Regel nichts, also macht keiner was.
Am Montag werde ich trotzdem versuchen, mehr herauszufinden. Dann hat theoretisch die Postzentrale auf. Das Problem ist nur, dass keiner wirklich weiss, warum, was passiert und wo es Informationen gibt. Der Dschungel beschränkt sich nicht nur auf den Regenwald...
Aber es stimmt. Das Leben hier zeigt mir auch, wie verwöhnt ich in Deutschland war.
Zum Glück gibt es aber noch das Internet und das Telefon...
liebe Grüsse
Gabriela
Juansi hat gesagt…
Hallo Gabriela,

ja die "Entrüsteinstellung" ist sowas von normal in unserm Land. "Jammern auf höchstem Niveau" hab ich das vor ein paar Jahren mal bezeichnet gehört. Den Ausdruck werde ich nie vergessen. Irgendwie beneide ich die Brasilianer aber - nicht unbedingt um ihre Lebensumstände, aber um den Gleichmut, mit dem sie die Sachlage anscheinend hinnehmen. Bei uns kommt da schnell immer sowas wie Hektik rein, die Angst, etwas verpassen zu können. Das stresst auch ziemlich, wenn ich da genau hingucke. Aber wie es eine halt gewohnt ist...
Da bleibt nur noch die Frage: wird sich etwas ändern oder nicht? Und wenn ja, was? Deine Entrüsteinstellung oder die Gegebenheiten in einem Land wie Brasilien?

Liebe Grüße
Juansi
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Juansi,
bevor sich im Land etwas ändert, habe ich mich 20 Mal geändert. Das steht fest. Hin und wieder gelingt es mir ja auch schon, alles etwas gelassener zu sehen. Nur Manchmal, da geht der Gaul mit mir durch. Abgesehen davon, dass ich meine Post schon gerne hätte, war es aber das, was mich an Brasilien fasziniert hat: die meisten verstehen es, einfacher, langsamer, genügsamer durchs Leben zu gehen. Ja, und das hätte ich eigentlich auch gerne gelernt. Ich arbeite daran.
Liebe Grüsse
Gabriela
mondin hat gesagt…
Liebe Gabriela !

Ich arbeite auch dran, obwohl ich so ein Pech hier in der Stadt nicht habe mit der Post.
Dafür finde ich andere Sachen furchtbar umständlich, z.B., dass man bestimmte Rechungen nur bei bestimmten Banken bezahlen kann, nicht alles immer über onlinebanking klappt und wenn man mal Schecks braucht, genau zu der Filiale gehen muss, bei der man angemeldet ist und nicht zu einer beliebigen meiner Bank. Uff, bis ich das alle mal geblickt hatte ;)

Mir geht es wie Dir, trotz alldem, finde ich es noch faszinieren, hier zu leben und es tut mir trotz allem auch gut !

Liebe Grüsse

Ursel
aus Casca-City

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