Riesenlöwenzahn und Wut im Bauch

Bis zum 26. April 1986 kannte kaum einer den Namen Tchernobyl, außer diejenigen vielleicht, die in Russland oder der Ukraine lebten. Am 26. April kam es zur Explosion im Atomreaktor von Tchernobyl. Am 26. April erfuhren aber nur wenige davon. Nicht nur in Russland wurde geschwiegen, auch in Deutschland war Schweigen die oberste Prämisse. Erst am 28. April gab es einen Hinweis in den Nachrichten, dass es in der Sowjetunion zu einem "Beinahe-Gau" gekommen sei. "Beinahe-Gau", was für ein Wort. Noch später kam die Nachricht, dass auch Bayern von der frei gesetzten radioaktiven Strahlung betroffen ist. Bis es Warnhinweise gab und die Aufforderung kam, kein Gemüse aus dem eigenen Garten mehr zu essen, Kinder nicht im Freien spielen zu lassen, nach jedem Gang vor das Haus sofort zu duschen, um sich zu "entkontaminieren", verging noch einmal etliches an Zeit.
Zum Zeitpunkt des Gaus war ich in den Bergen unterwegs, nahm nichtsahnend ein Bad in einem kühlen Bergsee - ohne mich danach zu entkontaminieren, zu duschen. Warum auch? Von der radioaktiven Strahlung, die da um mich herum war, wusste ich nichts, wusste kaum einer etwas.
Abgelöst wurde die Schweigepolitik von der Verharmlosungsstrategie. Alles nicht so schlimm, hieß es bereits nach wenigen Tagen. Ihr müsst nur die Erde eures Gartens austauschen, die Sandkästen mit neuem, nicht radioaktiven Sand bestücken und Salat und Gemüse aus Dosen essen. Salat aus Dosen. Der Tipp hat sich in mein Gedächtnis eingeprägt. Eingeprägt haben sich auch die Bilder der fetten Wiesen, die im Mai folgten. So fette Wiesen hatte ich vorher noch nie gesehen. Schönes, saftiges Grün. Ohne Kühe darauf, aber ewig vital wirkend. Und die riesigen Löwenzahne mit zwei und mehr Blütenköpfen auf einem Stil. Kaum ein Löwenzahn war dabei, der nur einen Kopf hatte, wie es natürlich gewesen wäre. Ich hatte Fotos davon gemacht, wie auch von den plötzlich roten Gänseblümchen mit fünf Köpfen auf einem Stil. Verzichtet hatte ich darauf, einige dieser Tscherno-Pflanzen für mein Herbar zu trocknen und zu pressen. Die Angst vor der Strahlung war zu groß. Seltsam war, dass der Film, den ich zum Entwicklen gebracht hatte, spurlos verschwand. Statt mit den Fotos all der seltsamen Auswüchse wurde mir eine Tüte mit einem neuen, leeren Film ausgehändigt und ein Zettel, auf dem stand, dass bei der Entwicklung meines Filmes leider ein Versehen unterlaufen sei. "Wir bitten das zu entschuldigen." "Entschuldigung", bekam ich auch von den Mitarbeitern des bayerischen Umweltministeriums zu hören. "Entschuldigung, aber das ist alles ganz normal. Wir haben bisher keine Auffälligkeiten fest gestellt und wir führen ständig Kontrollen durch", so oder so ähnlich erklärte mir die Beamtin, als ich wissen wollte, was es mit den seltsamen Pflanzen auf sich hat, wie hoch die Strahlung ist und ob sie noch eine Gefahr bedeutet.
Entschuldigung. Menschliches Versehen. Tausende Tote? Entschuldigung. Spätfolgen? Entschuldigung. Ewig viele Früh- und Fehlgeburten? Entschuldigung, aber unsere Statistiken weisen keinen "signifikanten" Anstieg auf.
Entschuldigung, war wohl alles nur Einbildung.
Die Verharmloser gibt es immer noch. Wer spricht schon noch darüber, dass Fleisch von Reh und Wildschwein aus bayerischen Wäldern nach wie vor einen erhöhten Wert an Radioaktivität haben, dass einige Pilzsorten, deshalb immer noch ungenießbar sind? Das Umweltinstitut, eine private Einrichtung, Greenpeace, Mütter gegen Atomkraft. Ja, sie sprechen davon. Aber, wer will die schon hören. Das sind doch nur grüne Spinner, die alles übertreiben. Keine Einzelmeinung. Viele Bayern glauben eher den Verharmlosern als den Umweltverbänden und Initiativen, die sich mindestens genauso intensiv mit dem Thema befasst haben und befassen, wie etliche Wissenschaftler.
20 Jahre Tchernobyl und geändert hat sich nicht viel. Doch, jetzt gibt es einen Jubiläumsband mit Fotos von der Katastrophe. Natürlich nur mit Fotos aus Tchernobyl und der Umgebung. Neu ist auch, dass einige Regierungspolitiker den Ausstieg vom Ausstieg aus der Atomkraft fordern. Und in Brasilien wird brav weiter in die Atomkraft investiert. Es hat ja nur ein Atomkraftwerk. Zum Glück. Das steht dafür strategisch äußerst günstig: in einem traumhaften Urlaubsgebiet unweit der 7-Millionen Einwohner zählenden Metropole Rio de Janeiro. Wenn das mal gut geht. Immerhin ist es auf Sand gebaut - am Meeresufer - und einer der Pfeiler gräbt sich schneller im Boden ein, als die anderen. Damit es nicht zum schiefen Atomkraftwerk von Brasilien kommt, werden Jahr für Jahr Tonnen von Beton unter den Pfeiler gekippt. Zumindest wurde das in einem Artikel behauptet, den ich im Internet entdeckt habe. Ob es stimmt? keine Ahnung. Das ist aber auch egal. Tchernobyl war nicht auf Sand gebaut, verschiefte sich nicht und explodierte doch.

Atomkraftwerk von Angra dos Reis, vor den Toren Rio de Janeiros und mitten in einem traumhaften Urlaubsgebiet. Finanziert unter anderem mit Mitteln von der Weltbank. Dass das Foto verschwommen ist, liegt darn, dass es aus dem fahrenden Auto heraus gemacht wurde. Anhalten und Fotografieren ist dort nämlich verboten.

Kommentare

sam hat gesagt…
Hallo Gabriela,

das mit Deinen "verschwundenen" Fotos ist der Hammer! Und so typisch, weil: Da kann man halt nichts machen. Ein Versehen, haha. Sicher eine Anordnung von ganz oben und finanziell gut abgedichtet, das Versehen.

Da kann man nämlich schon was machen: Drauf warten, dass all das Verdrängte den ewigen Abwieglern und Relativierern eines Tages in irgendeiner Form um die Ohren fliegt (gut, da wirds fast alle erwischen, aber seis drum- es ist schliesslich eine Menge davon da) und bis dahin sämtliche Lügen auch als Lügen zu benennen.

Ich hab von Tschernobyl damals tagelang nichts mitbekommen, weil ich in der Nähe eines kleinen italienischen Kaffs wohnte und nur bemerkte, dass plötzlich überall plakatiert war, man solle die Milch nicht mehr trinken, sondern wegschütten. Erst daraufhin besorgte ich mir eine Zeitung und las was passiert war. Später erfuhr ich, dass im Landkreis Miesbach ungewöhnlich viele Kälber mit Missbildungen, vor allem mit mehreren Köpfen auf die Welt gekommen sind und diese Tatsache (Meldung eines Tierarztes als Leserbrief in der Zeitung)als unhaltbar und ungeprüft niedergeschmettert wurde- eine offizielle Meldung vom Landwirtschsaftsministerium war das (soweit ich mich erinnern kann).
Der Mann beharrte auf seinen Beobachtungen und hatte dabei die Unterstützung der Bauern- sie waren dem Geschehen immerhin am nächsten. Sie (nicht die Bauern) haben ihm dann irgendwann einfach seine Praxis zugesperrt! Es ging offensichtlich nur drum, eventuelle Schadensersatzforderungen, Versicherungsfragen etc. niederzuhalten. Das scheint überhaupt die grösste Sorge der Regierung gewesen zu sein: Geld!
Fast wie im richtigen Leben.

Und als ich Dein Foto von Minas Gerais sah- ich hab mal im Fernsehen gesehen, was die mit dem Land machen, wie das ausgeschlachtet wird um der Bodenschätze willen- die Investoren/Schürfrechtler kommen alle aus dem Ausland. Die, die dort für einen Hungertaglohn buckeln, sind heimische Arbeiter. Man sieht so einer billig erstandenen Achatscheibe im Fenster oder der Kristalldruse aufm Nachtkastl halt auch nicht an, was ihr an Schweiss und Blut anhaftet und der hübschen goldenen Armspange auch nicht, wieviel Trinkwasser dafür mit Quecksilber verseucht wurde. Und mit der Energie ists genauso.

Grüsse!
sam
Ursel hat gesagt…
Liebe Gabriela, liebe Sam,

ja, " ein Hammer" trifft es wirklich gut, die Sache mit den Fotos !!
Wie schade, dass es damals noch keine Digitalkameras gab..
Hmm, ich gluab', ich war noch ein bisschen zu jung, um mich ernsthaft gebug damit auseinanderzusetzen, obwohl, wenn mich mir meinen Lesestoff "danach" so ansehe, hab ich schon gesucht (Franziskus in Gorleben etc.). Von entartetet Pflanzen habe ich in Hessen nichts mitbekommen.
Es war in jedem Fall bedrückend und schrecklich, aber danach waren andere Themen in meinem Leben wichtiger und Tschernobyl geriet in Vergessenheit. Nicht meine Atom-Gegenerschaft. Ich bin schon froh, dass wir hier in Paraná den Grossteil der Energie mit Wasserkraft abdecken können.

LG Ursel
Gabriela B. Lopes hat gesagt…
Hallo Sam, hallo Ursel,
ja, damals ist eine große Sauerei gelaufen und sie läuft irgendwie ja immer noch, wenn um Zahlen über Krebskranke und Krebstote diskutiert wird, die es im Zusammenhang mit der Tchernobylstrahlung gab, gibt und auch weiterhin geben wird. Das mit den Missgeburten bei Kälbern habe ich nicht mitbekommen. Ist aber logisch, wenn ja schon die Blumen "Missbuldungen" hatten.
Was mich an all dem ärgert, ist, dass keiner daraus gelernt hat. Es werden nach wie vor neue Atomkraftwerke gebaut und es wird mit der nächsten gefährlichen Technik blauäugig umgegangen und ebenso jegliche Kritik oft haltlos abgeschmettert. Ich meine die "grüne" Gentechnik.
Was du mit den Minen ansprichst, Sam, ist auch so eine Sache. Nicht nur in den Minen werden die Menschen hier ausgebeutet. Auch in der Landwirtschaft müssen sie mangels Alternativen für Hungerlöhne arbeiten. Viele Hausangestellte und Lehrer verdienen ebenso gerade einmal 200 Reais im Monat (etwa 80 Euro). So viel zahle ich hier an Miete... Alessandro hatte mal eine Arbeit hier in einem Supermarkt für 300 Reais im Monat - 7 Tage die Woche, á 12 Stunden. Ich hatte mich wahnsinnig darüber aufgeregt und auf ihn eingeredet, dass er sich nicht ausbeuten lassen darf, bis er endlich gekündigt hatte. Die Ausbeutermentalität ist hier leider sehr hoch - und die meisten Ausbeuter sind übrigens Einheimische!
Genug geklagt....
Wünsche euch alles LIebe
Gabriela
Ursel hat gesagt…
Liebe Gabriela,

ja, das ist echt heftig mit den Löhnen hier..
Es ist mit ein Faktor, dass ich gar noch nicht ernsthaft suche nach Arbeit, denn wenn ich für 300 oder 400 Reais den ganzen Tag irgendwo arbeiten soll und dann ncoh die Hausarbeit habe...naja, dafür muss es erst noch härter kommen..
Momentan arbeitet João wieder mit seinem Onkel auf einer anderen Baustelle als Muarer. Mal sehen, was dabei rumkommt. Die Sanepar lässt auf sich warten :)
LG ursel

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